Helfen Sie mit Ihren Projekten der beruflichen Bildung, Fluchtursachen zu bekämpfen?
Thorsten Nilges: Wir richten uns ja an extrem arme und ausgegrenzte Jugendliche. Sie würden es gar nicht schaffen, eine Reise nach Europa zu finanzieren und anzutreten. Unsere Projekte sorgen auf jeden Fall dafür, dass die Absolventen sozial und wirtschaftlich besser dastehen. Und wenn sie etwa von einem afrikanischen Land in ein anderes migrieren, können sie ihre sozialen und fachlichen Kompetenzen dort nutzen, das verschafft ihnen Vorteile.
Was lernen die jungen Leute in Ihren Projekten – im Unterschied zum staatlichen Bildungssystem?
Vera Siber: Die Jugendlichen unserer Zielgruppe haben in der Regel keinen Zugang zum staatlichen Berufsbildungssystem. Sei es, dass sie die Voraussetzungen nicht erfüllen oder sie es sich nicht leisten können. Unsere Partner bilden Jugendliche aus, die sozial ausgegrenzt sind, unter anderem frühere Kindersoldaten, Flüchtlinge, Menschen mit Behinderungen oder junge Leute, die die Schule abgebrochen haben. Es geht oft erst einmal darum, sie aus ihrer Ausgrenzung zu befreien. Manchmal ist es wichtiger, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, als dass sie in dem Beruf, in dem sie weitergebildet wurden, sofort eine Anstellung finden. Die Projekte sind praxisbezogen und laufen im Durchschnitt zwischen sechs und 12 Monaten. Während und nach der Ausbildung werden Praktika vermittelt.
Wie können Sie gewährleisten, dass Sie nicht am Bedarf vorbei ausbilden und die Absolventen keinen Job finden?
Nilges: Laut unserer jüngsten Evaluierung liegt bei einem großen Teil unserer Partner die Quote derjenigen, die nach der Ausbildung eine Beschäftigung finden, bei 70 Prozent. Es gibt aber immer noch altmodische Projektmodelle. Man baut eine Berufsbildungsschule und bildet in Schneiderei, Schreinerei und Friseurhandwerk aus. Dann hat man 30 Jugendliche mit einem Abschlusszeugnis, weiß aber nicht, ob sie einen Job bekommen. Es geht künftig mehr darum, den Bedarf des Marktes zu erheben und zu verfolgen, wo die Absolventen einen Job gefunden haben. Damit können die Berufsbildungsprogramme flexibel auf neue Berufsbilder reagieren.
Und gelingt das?
Nilges: Zunehmend. Unsere Evaluierung hat auch ergeben, dass wir uns mehr auf die Marktforschung konzentrieren müssen. Wir müssen die berufliche Laufbahn unserer Absolventen besser im Blick behalten und Marktlücken entdecken.
Siber: Unsere Partner sollten auch enger mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten, wie mit dem Autohersteller Toyota in Sierra Leone, in Kamerun mit der Firma Schneider Electric oder im Kongo mit den lokalen Handwerksbetrieben. Die Absolventen müssen zudem mehr als bislang auch nach dem Abschluss unterstützt werden. Es muss mehr in Alumni-Gruppen investiert werden, um den Kontakt zu halten und über langfristige Erfolge Auskunft geben zu können.
Sie haben von neuen Berufsbildern gesprochen. Welche meinen Sie?
Nilges: Der klassische Schreinerberuf ist nicht mehr besonders beliebt. Nachfrage besteht bei der Reparatur von Fahrrädern und Handys sowie bei der Installation und Wartung von Solaranlagen. Innovativ ist außerdem eine Ausbildung in Erdbauweise, einer traditionellen, arbeitsintensiven und günstigen Bauweise, die ohne Zement auskommt.
Siber: Im Kongo etwa wurde festgestellt, dass es bei der Schifffahrt auf dem Kivu-See viele Unfälle gibt. Die Partner haben daraufhin eine Matrosen- und Kapitänsausbildung eingeführt. In Sierra Leone haben die Bergbauunternehmen immer wieder Bedarf an Elektrikerinnen und Elektrikern. Den versuchen unsere Partner dann zu decken. Auch kombinierte Berufsbilder wie Haushandwerker – Maurer-, Elektrik- und Haussanitärhandwerk – haben Erfolg.
Bleiben die jungen Leute bei der Stange? Wie hoch sind die Abbruchquoten während der Ausbildung?
Nilges: Die rangieren zwischen unter zehn und mehr als 30 Prozent, das hängt stark von der Zielgruppe ab. Ein Programm in Äthiopien unterstützt ehemalige Prostituierte bei der Reintegration, dort liegt die Abbruchquote bei 22 Prozent. Das begründet sich durch die schwierige Lage der Auszubildenden.
Siber: Laut unserer Evaluation schließen 71 Prozent der Teilnehmer die Ausbildung ab. Das Ergebnis ist aber mit Vorsicht zu genießen, weil die Erfassungsmethoden gerade bei den Abbruchquoten noch nicht ausgereift genug und deshalb die Statistiken oft nicht aussagekräftig sind. Wir versuchen, mit Hilfe von Schulungen die Monitoring-Kapazitäten unserer Partner zu stärken.
Wie kooperieren Sie mit der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit?
Siber: In den Ländern, in denen die Partner gut vernetzt sind, findet ein internationaler Austausch statt. In Deutschland arbeiten wir im Team „Berufliche Bildung“ des Entwicklungsministeriums mit. Eine umfangreiche Evaluation der staatlichen Berufsbildungsprojekte hat 2012 gezeigt, dass sie zu wenig an die Graswurzel-Ebene angebunden sind und dass dies durch die Arbeit der Kirchen ergänzt werden könnte. Das wird durch den partizipativen Ansatz unserer Partner auf dieser Ebene auch tatsächlich erfüllt. Zudem wurde kritisiert, dass zu wenige Frauen aus- und weitergebildet werden. Mehr Frauen eine berufliche Chance zu bieten, ist einer der Schwerpunkt der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit. Angebote wie Kinderbetreuung und Haushaltshilfe erleichtern den Frauen den Zugang zu Ausbildung. Das verhilft gleichzeitig im Dienstleistungsbereich anderen Frauen zu einer neuen Beschäftigung.
Laut dieser Evaluierung haben staatliche Berufsbildungsprojekte auch kaum zur Armutsbekämpfung beigetragen. Was bekommen Ihre Projekte denn für ein Zeugnis?
Siber: Wenn die Absolventen nach der Ausbildung einen Job bekommen, haben sie ein höheres Einkommen als vorher. Das reicht aber meist nicht aus, dass sie ihren Lebensunterhalt komplett bestreiten können. Doch es geht ja nicht nur um die fachlichen Kenntnisse. In der Regel haben die Teilnehmenden nach den Kursen ein höheres Selbstwertgefühl. Ihr sozialer Status steigt, und es wird leichter für sie, sich selbstständig zu machen oder eine Anstellung zu finden. Ein typisches Zitat: „Vorher war ich niemand, jetzt respektieren mich die anderen, weil ich einen Beruf habe.“
Nilges: Misereor und Brot für Welt wurde bescheinigt, dass die Projekte armutsorientiert und inklusiv sind, dass wir also unsere Zielgruppen erreichen. Unsere Partner versuchen, den nationalen Regierungen zu zeigen, dass sie nicht nur ihre Mittelklasse-Kinder, sondern auch ihre Armen und Ausgegrenzten ausbilden können. Natürlich ist es gut, einen Unternehmer zu haben, aber wenn ein Straßenkind, das potenziell ein Störfaktor ist, sich dank beruflicher Bildung zu einem Unternehmer entwickelt, ist das für das Individuum großartig. Und für die Gesellschaft auch.
Vera Siber ist Beraterin berufliche Bildung bei Brot für die Welt.
Thorsten Nilges ist Fachreferent für berufliche Bildung in der Abteilung Afrika und Naher Osten bei Misereor.
Das Gespräch führte Gesine Kauffmann.
Vom Straßenkind zum Unternehmer
Wieder ein sehr interessanter Artikel von WELT-SICHTEN. Es ist sehr vielem, wenn nicht fast allem zuzustimmen. Nur es wird bei der jetzigen Arbeitsweise der Entwicklungszusammenarbeit nicht funktionieren. Das theoretische Modell von “Hilfe zur Selbsthilfe”, in welchem ja dieser völlig richtige Denkansatz implantiert ist, scheiterte in der Praxis der Durchführung. Gerne zeige ich die gravierenden Schwachpunkte der guten Idee auf. Es sind an den strategischen Punkten der Umsetzung keine Unternehmer, sondern sozial engagierte Menschen. Nur mit Gewinn aus Produktivität können soziale Dienstleistungen realisiert/erhöht werden. Dieses ist in der derzeitigen Entwickungszusammenarbeit nicht aktuell.
Hier ist zu viel Theorie darinnen, welche leider nicht in die Praxis umgesetzt werden kann. Bereits funktionierende Modelle werden nicht angenommen, angepasst und kopiert.
Hier wären natürlich die Medien wie WELT-SICHTEN gefragt, wo Projekte vorgestellt werden sollten, welche nicht durch Spendensammeln auffallen, sondern wo Investitionen in gewinnorientierte Betriebe mit Sozialfaktor entstehen. Wo dann diese Straßenkinder vorgestellt werden, welche durch die Hilfe der NGOs welche sie in vielen Belangen unterstützen, ihre Erfolge vorstellen. Dann könnten wir für Beteiligungen aufrufen und nicht um Spenden betteln, um damit die Schere zwischen arm und reich zu verringern.
Gerhard Karpiniec
Laxenburg/Österreich
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