Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière hält manche Gegenden Afghanistans für sicher genug, um Flüchtlinge dorthin abzuschieben. Sehen Sie das auch so?
Als der deutsche Minister vor einigen Tagen nach Kabul kam, trug er dort einen Schutzhelm. Und während er beim Mittagessen saß, gab es in der Stadt einen Selbstmordanschlag mit mehreren Toten. De Maizière sollte es also eigentlich besser wissen.
Der Anschlag richtete sich gegen eine Polizeistation in der Hauptstadt. Gibt es nicht Regionen, die wesentlich sicherer sind?
Im Zentrum des Landes gibt es einzelne Orte, die man als sicher bezeichnen könnte. Die Taliban sind auch nicht in jedem kleinen Dorf präsent. Aber kein Mensch kann sich die ganze Zeit an einem Ort aufhalten. Leute müssen zum Arzt, in größere Städte zum Einkaufen. Und unterwegs ist es gefährlich. Im Vorjahr wurden allein auf der Straße zwischen Kabul und Kandahar über 50 Menschen entführt, viele kamen nie zurück. Ein anderer Punkt ist, dass Afghanistan entlang ethnischer Gruppen geteilt ist. Man kann einen Paschtunen nicht einfach nach Zentralafghanistan schicken, wo hauptsächlich Hasaren leben, oder andersrum einen Hasaren in den Süden des Landes. Das Problem sind nicht nur die Taliban, sondern dass der Rechtsstaat viel zu schwach ist, um Minderheiten zu schützen.
Ist es moralisch zu verantworten, Menschen nach Afghanistan abzuschieben?
Nein. Man zerstört die Hoffnung der Menschen, die auf ihrer Reise oft sehr viel riskiert haben. Das ist auch psychologisch belastend. Ich kenne einige Afghanen, die abgeschoben wurden und sich dann umgebracht haben. Oder sie wurden von den Taliban aufgegriffen. Man kann die Leute nicht einfach wie Müll abladen.
Auf der anderen Seite: Blutet das Land nicht noch weiter aus, wenn immer mehr junge Menschen fliehen?
Es wäre gut für das Land, wenn sie blieben. Viele haben studiert. Aber es gibt keine Jobs und keine Perspektiven. Ich bin 34 Jahre alt, meine Generation ist im Krieg geboren und aufgewachsen – und jetzt ist der Krieg immer noch da. Aber es gehen ja nicht nur die Jungen, sondern auch ältere und ärmere Menschen verlassen das Land.
Während früherer Kriege sind deutlich weniger Afghanen nach Europa geflohen. Warum sind es jetzt so viele?
Als die internationale Koalition in Afghanistan eingriff, hatten viele die Hoffnung, dass es besser wird. Aber nach 15 Jahren ist fast nichts besser. 2015 sind noch mehr Zivilisten getötet oder verletzt worden als in den Jahren zuvor. Die Enttäuschung und der Frust sind einfach riesig, daran haben auch die ersten demokratischen Wahlen wenig geändert. Auch der Rückzug der internationalen Truppen ist ein Grund. Zehntausende Afghanen haben dadurch ihre Jobs verloren. Viele, die früher für die internationalen Truppen gearbeitet haben, wissen nicht wohin und werden teilweise sogar bedroht.
Hat die deutsche Flüchtlingspolitik einen Einfluss auf die Entscheidung der Flüchtlinge?
Ich glaube nicht, dass diese Politik der offenen Tür so eine starke Rolle spielt. Wichtiger ist, dass die Flucht heute nicht mehr so teuer ist wie noch vor einigen Jahren. Vor allem für die Strecke von der Türkei nach Deutschland oder Skandinavien müssen Flüchtlinge manchmal nur noch einige hundert Euro ausgeben. Durch die vielen Kriegsflüchtlinge ist die Infrastruktur besser geworden.
Haben die Leute ein idealisiertes Bild vom Westen?
Europa wird schon als Ideal wahrgenommen und von den westlichen Medien auch so dargestellt. Aber es stimmt ja auch: Hier können die Menschen normal leben, was in Afghanistan derzeit nicht möglich ist.
Die deutsche Regierung hat vor einigen Monaten eine Kampagne gestartet, um die Menschen vor der Flucht zu warnen – warum funktioniert das nicht?
Die australische Regierung macht das schon viel länger und auch sehr viel drastischer. Gebracht hat es wenig, die Menschen fliehen trotzdem, weil sie verzweifelt sind. Viele Afghanen hängen jetzt in Indonesien fest und hoffen darauf, irgendwie nach Australien zu kommen. Die Deutschen haben einfach ein paar Plakate mit einem Link zu einer Facebook-Seite aufgehängt, dabei nutzen viele Afghanen gar kein Facebook.
Was müsste der Westen denn tun, um die Situation zu verbessern?
Das wichtigste ist die Sicherheit. Die afghanischen Truppen müssen besser ausgerüstet werden. Und sie brauchen mehr Unterstützung: Ein Großteil der ausländischen Truppen im Land kümmert sich mehr um die eigene Sicherheit, statt die afghanischen Truppen zu unterstützen. Auch der Einbruch bei der Entwicklungshilfe ist ein Problem. Wir brauchen mehr Geld, das aber an bestimmte Konditionen gebunden ist, etwa den Kampf gegen die Korruption. Und es müssen Jobs her, zum Beispiel im Bergbau.
Trotz allem sind Sie immer noch in Afghanistan. Warum?
Ich war selbst Flüchtling, meine Familie ging nach Pakistan als ich noch ein Kind war. Nach dem Fall der Taliban bin ich 2003 zurück, meine Familie kam später nach. Ich hatte das Gefühl, etwas beitragen und verändern zu können. Seitdem arbeite ich als Menschenrechtler und Aktivist. Aber natürlich habe ich ständig Zweifel. Wenn ich morgens zur Arbeit fahre, verabschiede ich mich immer von meiner Mutter, ohne zu wissen, ob ich abends zurückkommen. Aber wenn es mich erwischt, dann war es wenigstens nicht umsonst.
Hadi Marifat ist Mitbegründer Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO), die sich mit künstlerischen und kulturellen Mitteln für die Demokratisierung in Afghanistan einsetzt.
Das Gespräch führte Sebastian Drescher.
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