Toleranz in Gefahr

In keinem anderen Land des Nahen Ostens leben Angehörige der verschiedenen Religionen so friedlich zusammen wie in Syrien. Doch diese Jahrhunderte lange Tradition scheint angesichts einer schleichenden Islamisierung bedroht. Die Regierung versucht gegenzusteuern. Zugleich unterdrückt sie noch immer jede öffentliche Kritik an ihrer Arbeit.

Das christliche Viertel von Aleppo verströmt einen Hauch von Paris. Am zentralen Sahat al-Hatab-Platz stehen Platanen und grüne Parkbänke, nur die Boulespieler fehlen. Im christlichen Viertel der alten Handelsstadt im Nordwesten Syriens haben die armenischen Silberschmiede ihre Geschäfte. Sie stehen vor ihren Läden und warten auf Kundschaft. Wenn man den Laden von Hakop Okasjian betritt, fällt sofort ein Foto ins Auge, das der Armenier direkt neben den Eingang plaziert hat. Es zeigt den syrischen Staatspräsidenten Bashar al-Assad und seine westlich gekleidete Frau Asmaa zusammen mit dem spanischen Königspaar. Das Foto ist keines jener Jubelplakate des Präsidenten, die im ganzen Land hängen, sondern ein privates Dokument, das sein Besitzer hütet wie einen Schatz. „Wir Armenier können in Syrien gut leben“, meint Okasjian. „Wir haben unsere eigenen Schulen, Zeitschriften und Kulturveranstaltungen auf armenisch.“ Armenische Rechtsanwälte und Ärzte können ohne weiteres praktizieren und genießen einen guten Ruf. Nach dem Völkermord in der Türkei 1915-17 ist Okasjians Familie wie viele Armenier nach Syrien geflüchtet. Die Dankbarkeit, hier sicher leben und die eigene Kultur pflegen zu dürfen, bringen ihre Nachfahren bis heute dem Regime entgegen.

Autorin

Claudia Mende

ist freie Journalistin in München und ständige Korrespondentin von „welt-sichten“. www.claudia-mende.de

Syrien mit seinen 20 Millionen Einwohnern bildet ein Scharnier zwischen dem Mittelmeerraum und der arabischen Welt. Im Dreieck zwischen Türkei, Irak und Jordanien kreuzten sich früher die Karawanenwege zwischen Fernost und Europa. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von etwa 2580 Euro pro Jahr (nach Angaben des Internationalen Währungsfonds) gehört Syrien zu den Entwicklungsländern mit mittlerem Einkommen – es ist im Nahen Osten etwa vergleichbar mit dem in Ägypten. Neben Arabern leben in Syrien 1,7 Millionen Kurden, vor allem an der Grenze zur Türkei, sowie Aserbeidschaner, Tscherkessen aus dem Kaukasus, Armenier, eine halbe Million Palästinenser und etwa eine Million irakische Flüchtlinge.

Auch religiös ist Syrien alles andere als einheitlich. Vier Fünftel der Bevölkerung sind Sunniten (80 Prozent), daneben aber gibt es schiitische Splittergruppen wie Alawiten und Ismailiten, Drusen sowie elf verschiedene christliche Konfessionen. Die rund zehn Prozent Christen werden nicht nur geduldet, sie nehmen aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben teil. In Aleppo gehören sie zur Wirtschaftselite. Berufliche Nachteile für Christen, wie sie zum Beispiel in Ägypten an der Tagesordnung sind, gibt es hier nicht. Nirgendwo im Nahen Osten ist das Zusammenleben der Religionen so beispielhaft gelungen wie in Syrien.

Diese Toleranz wird seit Jahrhunderten gelebt. Aber sie hat auch handfeste machtpolitische Gründe im autoritär geführten, säkularen Einparteienstaat: Die herrschende Elite um den Regierungschef Bashar al-Assad gehört zur liberalen schiitischen Gemeinschaft der Alawiten, die selbst am Rande der islamischen Orthodoxie angesiedelt ist. Alawiten gehen nur selten in die Moschee, sie trinken Alkohol und kleiden sich westlich. Für viele muslimische Sunniten sind sie nicht lupenrein islamisch. Toleranz gegenüber Minderheiten ist für das Regime daher eine Frage des eigenen politischen Überlebens.

Doch die syrische Gesellschaft verändert sich rasant. Wer heute durch die Zentren der beiden syrischen Metropolen Aleppo und Damaskus schlendert, sieht viele von Kopf bis Fuß schwarz verschleierte Frauen, von denen man nur die neugierig schauenden Augen sieht. Manche ergänzen ihren Niqab noch mit langen schwarzen Handschuhen oder einem dünnen schwarzen Tuch, das die Augen verdeckt. Das war nicht immer so. Diese Art der Verschleierung nach dem Vorbild der Wahhabiten in Saudi-Arabien ist in Syrien ein neues Phänomen. Der Trend zu einem konservativen und womöglich fundamentalistischen Islam beunruhigt die religiösen Minderheiten und die säkulare Führung gleichermaßen. Im Juli 2010 hat Assad den Niqab an Universitäten und Schulen verboten. Hunderte von Lehrerinnen wurden aus öffentlichen Schulen verbannt und gezwungen, Jobs in der Verwaltung anzunehmen, falls sie sich weigerten, im Unterricht ihr Gesicht zu zeigen.

„Das Regime hat jahrelang die schleichende Islamisierung zugelassen, solange sie nicht politisch war“, beurteilt Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin das Niqab-Verbot. Steinberg bescheinigt dem Regime eine gewisse Paranoia, wenn es um islamistische Strömungen geht, „weil die Legitimität der Regierung schwach ausgeprägt ist“. Bereits in den 1980er Jahren verübten Muslimbrüder im Norden Syriens Anschläge, bis das Regime sie brutal niederschlug. Seitdem ist die Bruderschaft offiziell im Land verboten, während die Regierung gleichzeitig die radikal-schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon und die palästinensische Hamas unterstützt. Das ist ein Spagat, den sie kaum plausibel machen kann.

Jahrzehntelang gehörte Syrien zu den treuen Vasallen Moskaus. Sozialistische Ideologie, Planwirtschaft, überbordende Bürokratie und Bespitzelung der Bürger durch konkurrierende Geheimdienste gaben dem arabischen Land einen Anstrich von Ostblock. Gleichzeitig gab es aber eine gewisse Grundversorgung mit subventionierten Alltagsgütern, billige Mieten und Arbeitsplatzgarantien für das große Heer der Staatsdiener. Finanziert hat man das vor allem aus Einnahmen aus den Erdölexporten.

Nach dem Fall der Mauer und der Auflösung des Ostblocks hat sich für Syrien die politische Großwetterlage verändert. Im Jahr 2000 starb der langjährige Diktator Hafez al-Assad, und sein Sohn Bashar, ein in London ausgebildeter Augenarzt, übernahm die Macht. Das neue Regime konnte die aufgestauten Entwicklungsprobleme nicht mehr länger ignorieren. Die Erlöse aus Ölexporten gehen kontinuierlich zurück, weil die Quellen sich langsam erschöpfen. Dazu kommen ein hohes Bevölkerungswachstum von 2,5 Prozent und zunehmende ökologische Probleme wie gravierender Wassermangel in der Landwirtschaft und häufige Dürreperioden, die die Staatseinnahmen gewaltig unter Druck setzten. Die 1,5 Millionen Flüchtlinge aus dem Irak, die Syrien im Gegensatz zum Nachbarland Jordanien großzügig aufgenommen hat, belasten die soziale Infrastruktur des Landes zusätzlich. Assad blieb zur Öffnung Syriens für den Weltmarkt keine wirkliche Alternative. 2006 verkündete der Präsident mit dem neuen Fünfjahresplan seinen Schwenk zur sozialen Marktwirtschaft.

Seitdem sind private Banken entstanden und der Wechselkurs des syrischen Pfund wurde freigegeben. Die Zölle auf Importe und damit auch Handelsschranken wurden abgebaut, ausländische Investoren angelockt und Staatsbetriebe privatisiert. Seit 2007 hat Damaskus sogar eine Börse. Deutsche Experten unterstützen im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die syrische Führung bei der Liberalisierung der Wirtschaft. Unter anderem haben sie sie zum Beispiel bei der Neuformulierung des Steuerrechts und des Banken- und Wettbewerbsgesetzes beraten.

Politisch hingegen hat der junge Assad die Hoffnungen weitgehend enttäuscht. Nach einem kurzen „Damaszener Frühling“, der gleich nach seinem Amtsantritt mehr Meinungsfreiheit verhieß, wurden die Intellektuellen wieder zurückgepfiffen. Trotzdem ist Syrien heute von der bleiernen Zeit der 1980er Jahre weit entfernt. Auf lokaler Ebene ist so etwas wie Bürgerbeteiligung ansatzweise möglich, solange die Interessen des Regimes nicht direkt gefährdet sind. So versucht die Stadt Aleppo als erste Kommune des Nahen Ostens, die Lokale Agenda 21 zur nachhaltigen Entwicklung anzuwenden.

Die Wirtschaftsreformen zeigen zum Teil Wirkung, aber sie schaffen auch viel Unmut, weil sie die soziale Ungleichheit verstärken. Die Wirtschaft ist 2007 um 3,3 Prozent gewachsen, während sie in den 1990er Jahren mit durchschnittlich rund einem Prozent stagnierte. Die gestiegene Wirtschaftskraft kommt jedoch nicht der breiten Masse der Bevölkerung zugute. „Die Schere zwischen Arm und Reich ist in den letzten fünf Jahren deutlich auseinandergegangen“, sagt der Politikwissenschaftler André Bank vom Institut für Nahost-Studien in Hamburg. Für viele Syrer ist das Leben heute härter. In Damaskus schießen internationale Fastfood-Ketten, teure Cafés und Nobelhotels aus dem Boden, die pro Nacht das Mehrfache des Monatsgehalts eines Lehrers, durchschnittlich etwa hundert Euro, verlangen. Viele der Armen, deren Anteil an der Bevölkerung laut den Vereinten Nationen 30 Prozent beträgt, leben in den informellen Siedlungen von Damaskus und Aleppo.

Wenn dann wie 2008 Subventionen auf Öl und Gas reduziert werden, um den Staatshaushalt zu entlasten, trifft das viele Familien hart. Damals gab es spontane Proteste auf den Straßen von Damaskus, die auch die Sicherheitsdienste nicht ganz verhindern konnten. Von der wirtschaftlichen Öffnung profitieren vor allem die direkt mit dem Regime verbundene Unternehmensfamilien und Clans. Viele Syrer empören sich hinter vorgehaltener Hand über Reiche, die sich an keinerlei Gesetze halten, oder Abgeordnete der Baath-Partei, die für ihre Dienste kräftig kassieren. Wer die grassierende Korruption der führenden Cliquen öffentlich anspricht, der bekommt sehr schnell Probleme mit der Staatsgewalt. So wie der prominente Regimekritiker Riad Seif, ein Geschäftsmann und früherer Abgeordneter. Seif hatte es gewagt, öffentlich die Vergabe lukrativer Mobilfunklizenzen an den Assad-Clan zu kritisieren. 2008 wurde er zum zweiten Mal zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.

Die Minderheiten in Aleppos christlichem Viertel fürchten, dass mit wachsender Islamisierung und steigenden sozialen Spannungen auch das Klima religiöser Toleranz im Land gefährdet sein könnte. Denn die Kritik an sozialer Ungleichheit und dem Fehlen von Demokratie und Mitbestimmung äußert sich immer lauter in islamischem Gewand. „Die Globalisierung schafft so etwas wie eine Angst vor Identitätsverlust unter manchen Muslimen“, sagt der chaldäisch-katholische Bischof von Aleppo, der Jesuit Antoine Audo. „Diese Angst äußert sich dann in einem krampfhaften Festhalten an einer rückwärtsgewandten Form des Islam.“ Ob diese Sorge berechtigt ist, wird die Zukunft zeigen.

 

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erschienen in Ausgabe 11 / 2010: Arabische Welt: Umworben und umkämpft
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