Magische Pillen gegen den Fadenwurm

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Der Kampf gegen die Flussblindheit ist eine Erfolgsgeschichte: In Ecuador und Kolumbien ist die Krankheit schon ausgerottet. Nigeria ist noch nicht ganz so weit.

Amina Bazamfare kneift die Augen fest zusammen. Sie öffnet sie langsam wieder und blinzelt gegen die Sonne. So grell wie sonst um die Mittagszeit ist das Licht in diesen Wochen nicht. Gerade ist Harmattan in Westafrika: eine besondere Windkonstellation, die Wüstensand und Staub bringt und dafür sorgt, dass der Himmel stets ein wenig schmutzverhangen aussieht. Amina Bazamfare, die im Dorf Kudaru im Norden Nigerias lebt, kann dadurch etwas besser sehen, zumindest mit dem linken Auge. „Rechts geht gar nichts mehr“, sagt die alte Frau. Seit wann das rechte Auge blind ist, kann sie nicht mehr genau sagen, genau so wenig, wie alt sie ist. „Viele Jahre habe ich schon hinter mir. Die zähle ich doch nicht mehr.“ Auf ihrem Gesicht macht sich ein Grinsen breit.

Doch sie kann sich noch genau erinnern, wie das Leiden begann. „Es waren diese Fliegen, die mich auf dem Feld ständig gestochen haben. Ich habe mir die ganzen Beine aufgekratzt.“ Sie zeigt auf die glatte, dünne Haut an den Unterschenkeln, die wie Pergament wirkt und an einigen Stellen vernarbt ist. Medizinisch versorgt wurden die Stiche nicht. „Bei uns gibt es nicht mal ein Krankenhaus“, sagt Amina Bazamfare. Kudaru liegt zwar nur zwei Autostunden entfernt von der Millionenstadt Kaduna. Doch die Reise dorthin ist noch immer beschwerlich. Auch als das Jucken immer unerträglicher wurde, war daran nicht zu denken. Die Beine von Amina Bazamfare schaute sich deshalb lange kein Arzt an. Auch ihre Augen nicht – die wurden mit der Zeit immer schlechter.

Dass sie an der Flussblindheit erkrankt war, erfuhr die alte Frau erst viel später. Onchozerkose, so die wissenschaftliche Bezeichnung, ist eine Parasitenerkrankung. Die Larven des Fadenwurms, Onchocerca volvulus, werden durch Stiche der Kriebelmücke übertragen und breiten sich nach und nach im Körper aus. Anfangs sorgen sie für Juckreiz und Hautveränderungen. Danach entstehen Knoten im Bindegewebe. Die Augen werden erst nach vielen Jahren ohne Behandlung befallen.

Die Weltgesundheitsorganisation  (WHO) zählt die Flussblindheit zu den 17 vernachlässigten Tropenkrankheiten. Es sind Krankheiten, die nur im globalen Süden ausbrechen und in Industrieländern weitgehend unbekannt sind. Häufig bedeutet das: Das Interesse an der Erforschung von Impfstoffen oder Medikamenten ist gering, denn die Nutznießer sind in der Regel arm. Das macht den Absatzmarkt für Pharmaunternehmen uninteressant.

Im Riesenstaat Nigeria mit 180 Millionen Einwohnern ist die Flussblindheit besonders verbreitet. Nach Einschätzung des US-amerikanischen Carter Centers, das unter anderem für die Ausrottung vernachlässigter Tropenkrankheiten kämpft, laufen rund 31 Millionen Menschen Gefahr, sich zu infizieren. Der Direktor des nigerianischen Zentrums für vernachlässigte Tropenkrankheiten, Ifeoma Anagbogu, befürchtet sogar, dass sich bis zu 50 Millionen Nigerianer infizieren könnten, wenn nichts gegen die Krankheit unternommen wird. Derzeit kommt die Onchozerkose in 29 der 36 Bundesstaaten vor, vor allem in den ländlichen Regionen, und sie breitet sich dort in der Nähe von Gewässern aus, wo die Mücken leben. Tatsächlich erkrankt sind weltweit laut WHO rund 18 Millionen Menschen.  Rund 6,5 Millionen von ihnen leiden an schweren Haut­erkrankungen wie Amina Bazamfare. 270.000 Erkrankte haben ihr Augenlicht komplett verloren.  Die Zahlen klingen alarmierend. Trotzdem ist der Kampf gegen die Flussblindheit eine Erfolgsgeschichte. Denn Amina Bazamfare gehört zu den wenigen Menschen der alten Generation in Nigeria, die ihre Sehkraft verloren haben. In den Nachbardörfern können sich die jungen Leute gar nicht mehr daran erinnern, dass jemand durch kleine Kriebelmücken blind geworden ist. Vor gut 40 Jahren gab es in Westafrika Dörfer, in denen jeder zweite Mann über 40 seine komplette Seh- und damit auch seine Arbeitskraft verlor. In den 1970er Jahren betrugen die wirtschaftlichen Verluste in der Region laut WHO-Schätzungen jährlich rund 30 Millionen US-Dollar.

Bereits 1974 wurde das Onchozerkose-Kontrollprogramm für Westafrika gestartet. Zu Beginn wurden aus Flugzeugen und Hubschraubern heraus Insektizide gesprüht, um die Kriebelmücken zu bekämpfen. Seit 1989 wird zusätzlich das Medikament Mectizan verteilt – Millionen Menschen konnten so vor einer Infektion bewahrt werden.

Daran hat auch Sunday Isiyaku seinen Anteil. Er leitet die Nigeria-Niederlassung der britischen Hilfsorganisation Sightsavers, die ihren Sitz in Kaduna hat und seit mehr als 40 Jahren in sechs Bundesstaaten aktiv ist. Zu den Aufgaben der insgesamt 31 Mitarbeiter gehört es, gesundheitliche Aufklärung zu leisten, zu überprüfen, ob die Krankheit möglicherweise an bisher weniger betroffenen Orten wieder ausbricht, und entlegene Dörfer mit Mectizan zu versorgen. „Nigeria hat viel im Kampf gegen die Krankheit getan“, lautet sein vorläufiges Fazit.

Dieser Kampf sei zugleich ein gutes Beispiel dafür, wie Staat, Hilfsorganisationen und private Einrichtungen zusammen arbeiten können. So viel Lob für die Regierung ist eher selten. Doch Isiya-ku beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Flussblindheit und hat alle Maßnahmen, die aus der Hauptstadt Abuja kamen, sowie die Aktivitäten der Regionalregierungen verfolgt. So gibt es verschiedene Komitees und Arbeitskreise, die sich regelmäßig austauschen. Die Regierung des Bundesstaates Kaduna stellt der nichtstaatlichen Organisation kostenfrei Büroräume zur Verfügung.

„Insekten mochte ich schon immer“, sagt Isiyaku und lächelt, als er im großen und ein wenig düster wirkenden Konferenzraum von Sightsavers sitzt. Nach seinem Bachelor-Abschluss in Zoologie an der Universität Ahmadu Bello in Zaria, einer renommierten Lehr- und Forschungseinrichtung des Landes, entschied er sich deshalb, Insektenkunde und Parasitologie zu studieren. Vor allem das Zusammenspiel von Insekten, Krankheiten und Übertragungswegen interessierte ihn. Nach dem Ende seines Studiums 1992 stieß er auf eine Krankheit, die damals ins Gespräch kam – Onchozerkose. „Sie hat mich fasziniert, weil ich spürte, es gibt gute Möglichkeiten, sie zu bekämpfen.“

Sunday Isiyaku sollte Recht behalten. „Nigerias Regierung hat gerade wieder ein Komitee zur Ausrottung von Onchozerkose gegründet“, sagt er. Ihm gehören Experten an, die Erfahrung aus Südamerika mitbringen. Dort ist die Krankheit nahezu ausgerottet, laut WHO gelten Kolumbien und Ecuador bereits als frei davon. Nach Angaben des Carter Centers haben großangelegte Kampagnen und hoch motiviertes medizinisches Personal viel zum Erfolg beigetragen. Allerdings waren die Infektionsraten auch geringer als im westlichen Afrika, wo nach WHO-Angaben bis zu 90 Prozent aller Fälle auftraten. Heute sind es sogar 99 Prozent der Fälle.

In Nigeria sollen nicht nur Gesundheitsexperten helfen, die Krankheit einzudämmen. Ehrenamtliche beteiligen sich ebenfalls – so wie Sunday Ishaku in Kudaru. Der junge Mann trägt eine Strickmütze, Hemd und Hose sind ordentlich gebügelt, die frisch geputzten schwarzen Schuhe glänzen im Sonnenschein. In der rechten Hand hält Ishaku eine Messlatte, die in fünf verschiedenen Farben gestrichen ist. Die oberen vier Abschnitte sind mit weißen Punkten verziert.

Sie ist sein Werkzeug im Kampf gegen die Flussblindheit. Einmal jährlich vermisst er alle Einwohner des Dorfes damit. Ishaku hält die Latte an einen Mann in einem karierten Hemd: „Wenn du so groß bist, wie dieser Mann, dann musst du vier Tabletten nehmen.“ Dann lässt er seine Hand in Richtung Boden wandern. „Wenn wir jetzt ein zehnjähriges Kind hätten“, er hält zwischen dem grünen und roten Bereich kurz inne, „dann wäre es in etwa so groß und müsste zwischen einer und zwei Tabletten nehmen.“

Ishaku ist stolz auf seine Aufgabe. Sightsavers hat ihn dafür ausgebildet. Übertragen wurde ihm das Ehrenamt jedoch von der Dorfgemeinschaft, die den jungen Mann für seriös und zuverlässig hält. Das bestätigt auch Amina Bazamfare. Einmal im Jahr bringt Sunday Ishaku ihr die kostenlosen Tabletten nach Hause. Von ihrer Körpergröße her dürften es drei oder vier sein. Die alte Frau hat sich gerade hingehockt und wirkt müde. Trotzdem lächelt sie, als sie nach den Pillen gefragt wird. „Die machen das Leben leichter.“ Sie haben den weiteren Verlauf der Krankheit schließlich aufgehalten, die alte Frau kann zumindest noch ein wenig sehen. Auch über starken Juckreiz klagt sie nicht mehr. Ein weiterer Vorteil ist, dass sie sich nicht selbst um die Beschaffung kümmern muss. Sightsavers organisiert die Verteilung der Tabletten, die bis nach Kudaru gebracht werden. Sie sind tropentauglich und können ohne Kühlschrank gelagert werden.

Bei den Tabletten handelt es sich um das Medikament Mectizan auf der Grundlage des Wirkstoffs Avermectin, den die Forscher Satoshi Ōmura aus Japan und William C. Campbell aus Irland bereits Ende der 1970er Jahre entdeckt haben. Damit lassen sich die für Onchozerkose verantwortlichen Parasiten unschädlich machen. Auf den Markt gebracht wurde die Entdeckung 1987 vom Pharmaunternehmen Merck, das nach eigenen Angaben jährlich bis zu 250 Millionen Tabletten spendet. Das Medikament lässt Blinde zwar nicht wieder sehen. Aber es tötet die Fadenwürmer, die dann keine Mikrofilarien – Larven – mehr produzieren. Die Krankheit wird daher gestoppt. Dafür muss es mindestens zehn Jahre lang ein- bis zweimal pro Jahr eingenommen werden, je nachdem, wie hoch das Risiko ist.

Autorin

Katrin Gänsler

ist freie Journalistin in Westafrika. Sie lebt in Lagos und Cotonou und berichtet für deutschsprachige Tageszeitungen, Magazine und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
m Oktober 2015 erhielten Ōmura und Campbell gemeinsam mit der Japanerin Youyon Tu – sie forscht seit Jahrzehnten zu Malaria – den Medizin-Nobelpreis. Sightsavers-Chef Sunday Isiyaku wird sich an diesen Tag womöglich sein ganzes Leben erinnern. „Ich habe mich an diesem Morgen so erleichtert gefühlt“, sagt er. „Endlich hat die Welt verstanden: Es gibt diese kleine Tabletten, die echte Magie bewirken. Sie haben viele Millionen Menschen davor bewahrt, blind zu werden.“ Wer nie Probleme mit dem Augenlicht hatte, mag seine Begeisterung nicht verstehen. „Aber als ich als junger Wissenschaftler zum ersten Mal mit der Krankheit in Berührung kam und Menschen sah, die erblindet waren, hat mich das sehr bewegt. Es hat mein Leben verändert.“

Amina Bazamfare in Kudaru geht es ähnlich. Immer wieder zwinkert sie mit ihren Augen. Das blinde rechte glänzt dabei manchmal ein wenig so wie eine Murmel. Dann schüttelt sie langsam den Kopf. „Als ich merkte, dass es immer schlechter wird, war ich so unglücklich. Es fühlt sich fürchterlich an, nicht mehr sehen zu können“, sagt sie mit müder Stimme.

In Afrika bedeutet die Krankheit zudem hohe Einkommensverluste. Die Kriebelmücken stechen zu, wenn auf den Feldern gearbeitet wird. Häufen sich die Fälle, wird oft fruchtbares Ackerland nicht mehr bewirtschaftet. Andere Verdienstmöglichkeiten gibt es jedoch nicht. Amina Bazamfare ist auf Almosen von Verwandten und Nachbarn angewiesen. Sie hat nicht einmal mehr Kinder, die sie unterstützen könnten. Alle vier sind gestorben – was genau passierte, möchte sie nicht erzählen.

Trotzdem lässt sie sich nicht entmutigen. Zum Schluss des Gesprächs lächelt die alte Frau noch einmal breit und setzt sich für das Abschiedsfoto so aufrecht wie möglich hin: „Ist es gut geworden?“, fragt Amina Bazamfare, als sie das Klicken der Kamera gehört hat. Sie wird sich nie mit eigenen Augen davon überzeugen können.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2016: Seuchen: Unsichtbare Killer
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