Mit täglich neuen Anschuldigungen, Gerichtsklagen oder auch Schimpfwörtern unterhalten die konservativen Kardinäle und der linke Oberbürgermeister Marcelo Ebrard derzeit die Mexikaner. Doch der Hintergrund ist ernst: Der Konflikt geht auf das Jahr 2007 zurück, als das mehrheitlich linke Kommunalparlament der Hauptstadt Abtreibungen bis zur 12. Woche legalisierte. Die Kommune argumentierte gesundheitspolitisch, denn heimliche Aborte unter prekären Bedingungen waren bis dahin die fünfthäufigste Todesursache unter jungen Frauen der Hauptstadt. Doch die Kirche in Mexiko, der weltweit zweitgrößten katholischen Bevölkerung nach Brasilien, schlug Alarm – zum Schutz des ungeborenen Lebens.
Autor
Matthias Knecht
arbeitet als Auslandskorrespondent in Lateinamerika für die Nachrichtenagentur epd, die „Neue Zürcher Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“.Zwei Jahre später, im Dezember 2009, brachte Mexiko-Stadt erneut die katholische Kirche gegen sich auf und führte als erste Region in Lateinamerika gesetzlich die Ehe homosexueller Partner ein, verbunden mit einem Rechtsanspruch auf die Adoption von Kindern. Obwohl ein solches explizites Recht in Mexiko nicht einmal heterosexuellen Partnern zusteht, bekräftigte das Bundesgericht im vergangenen August den Adoptionsanspruch homosexueller Paare.
Der Kardinal beruft sich auf „traditionelle Familienwerte“
Der für seine polternden Auftritte bekannte Erzbischof von Guadalajara, Kardinal Juan Sandoval, beschimpfte Homosexuelle daraufhin obszön und warf Bürgermeister Ebrard vor, die Bundesrichter „geschmiert“ zu haben. Die Richter rügten Sandoval, und Mexikos Gleichstellungsbehörde leitete eine Untersuchung ein. Bürgermeister Ebrard verklagte Sandoval sowie den wortgewaltigen Sprecher der Hauptstadtdiözese, Hugo Valdemar. Letzterer attackiert Ebrards „destruktive Familiengesetze“ seit Jahren und hat ihm vorgeworfen, „mehr Schaden als der Drogenhandel“ anzurichten. Dem Bürgermeister geht es indes um mehr als seine Reformen: Er sieht das Gebot der Trennung von Kirche und Staat verletzt. Sandoval hingegen wirft den Bundesrichtern und der Hauptstadtregierung vor, traditionelle Familienwerte zu untergraben, „indem sie eine Situation legalisierten, die gegen die Natur geht“.
Mexikos Bischofskonferenz steht einstimmig hinter Sandoval. Doch hinter vorgehaltener Hand kritisieren Priester seine provokativen Auftritte. Öffentlich darf sich nur Valdemar zum Streit äußern, der aber Interview-Anfragen ablehnt. Die wichtigste katholische Publikation der Hauptstadt, „Desde la Fé“ (Vom Glauben), wollte zwar Sandovals verbale Entgleisungen kritisieren. Doch der Text wurde zensiert und kurz vor Druck ausgetauscht. Stattdessen meldete die Wochenzeitung, die katholische Kirche Mexikos marschiere „einiger denn je“.
Genau das bezweifeln die „Katholikinnen für das Recht auf Entscheidung“, eine von katholischen Wissenschaftlerinnen initiierte Frauengruppe. „Die Kirchenführung will die Modernität, die Mexiko und seine Gläubigen leben, nicht anerkennen“, sagt Aidé García, eine der Koordinatorinnen. Statt des „strafenden Diskurses“ der Kardinäle fordert sie Gewissensfreiheit für Frauen.
Im Alltag praktiziert die katholische Kirche in der Hauptstadt das auch: Liberal eingestellte Priester und Nonnen beraten in Zusammenarbeit mit der Katholikinnen-Organisation schwangere Frauen bei der schwierigen Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung – im offenen Widerspruch zu den Kardinälen.