Leben im Schwefeldampf

Im Osten der indonesischen Insel Java spuckt seit mehr als vier Jahren ein Vulkan gewaltige Mengen Schlamm. Geologen machen eine Erdgasbohrung für den Ausbruch verantwortlich, die zuständige Firma und die Regierung sehen ein Erdbeben als Ursache. Versuche, den Vulkan zu stoppen, werden nicht unternommen. Noch immer sind längst nicht alle Anwohner, die Häuser und Land verloren haben, entschädigt. Und die giftigen Schwefeldämpfe ruinieren ihre Gesundheit.

Von Anett Keller

Es ist Mittagszeit in Siring Barat, einem Ortsteil von Porong im ostjavanischen Landkreis Sidoarjo unweit von Indonesiens zweitgrößter Stadt Surabaya. Das Viertel, früher ein beliebtes Wohngebiet, gleicht einer Geisterstadt. Tote Bäume säumen die kleinen Gassen, viele Häuser stehen leer. Siring Barat liegt nur wenige Kilometer entfernt von dem Schlammvulkan, den die Menschen hier „Lumpur Lapindo“ nennen. Seit er am 29. Mai 2006 zum ersten Mal ausbrach, ist in Porong nichts mehr, wie es vorher war. In den Folgemonaten überflutete der Schlamm 12 Dörfer, vertrieb mindestens 40.000 Menschen. Über 20 Fabriken versanken ebenso wie Schulen und Moscheen. Die Autobahn nach Surabaya, die einst mitten durch den heutigen Schlammsee führte, musste verlegt werden.

Menschliche Schuld oder natürliche Ursache?

Nur 150 Meter entfernt von der Ausbruchsstelle befindet sich ein Erdgas-Bohrloch der Firma PT Lapindo Brantas. Die Mehrzahl der Wissenschaftler, die den Schlammvulkan untersucht haben, wirft Lapindo vor, den Bohrungskanal nicht ausreichend gesichert und damit den Ausbruch ausgelöst zu haben. Heißes Salzwasser konnte demnach unter einem gigantischen Druck nach oben schießen, es vermischte sich mit weichen Tonschichten und trat als Schlamm an die Oberfläche.

Für Rudi Rubiandini, einen der führenden indonesischen Geologen und Chef der im Sommer 2006 zur Untersuchung der Katastrophe eingesetzten staatlichen Untersuchungskommission, ist die Sache klar: „Wir haben alle verfügbaren Daten ausgewertet und internationalen Wissenschaftlern zur Prüfung vorgelegt. Hunderte Geologen kamen zu dem Schluss, dass der Schlammfluss durch die Bohrungen ausgelöst wurde.“ Lapindo behauptet hingegen, die Katastrophe habe eine natürliche Ursache, nämlich das zwei Tage zuvor erfolgte Erdbeben in Yogyakarta. Rubiandini kann darüber nur den Kopf schütteln. „Es hat weder Erschütterungen noch Schäden in Sidoarjo gegeben. Die Wirkung des Erdbebens war hier etwa so stark, als wenn vor der Tür ein Moped vorbei fährt.“

Dennoch entschied das indonesische Parlament im September 2009 in einer Abstimmung, dass der Schlammfluss eine Naturkatastrophe war. Rubiandini war nicht zur Anhörung geladen. Die Sache ist längst ein Politikum. Die Firma Lapindo gehört den Bakries, einer der reichsten Familien Südostasiens. Einer ihrer Sprösslinge zählt zu den mächtigsten politischen Strippenziehern in Indonesien: Aburizal Bakrie ist Vorsitzender der Golkar-Partei, einst die politische Basis von Diktator Suharto und heute die zweitstärkste Kraft im Parlament. 2007 kürte ihn das Forbes-Magazin zum reichsten Indonesier. Sein Imperium reicht von Medien und Telekommunikation über Plantagen bis zur Gewinnung von Steinkohle und Erdgas. Auch politisch hat er seinen Einfluss ausgebaut. Nach mehreren Ministerposten wurde er zum Koordinator der Regierungskoalition von Präsident Susilo Bambang Yudhoyono ernannt. Politische Beobachter sind sicher, dass Bakrie zur nächsten Wahl 2014 selbst für das höchste Amt im Staat kandidieren wird.Anfangs hatte die indonesische Regierung verfügt, dass Lapindo die Opfer entschädigen muss. Mehrere Mitarbeiter wurden von der Polizei vorgeladen. Das Unternehmen einigte sich mit Opfern auf Entschädigungen. Doch später wurden aus Geldversprechen Sachleistungen und aus zugesagten Gesamtsummen Ratenzahlungen. Die Firma begründete dies mit finanziellen Engpässen wegen der globalen Wirtschaftskrise. Vor allem die ärmeren Schlamm-Opfer, die sich keinen langen Atem leisten konnten, willigten ein.

Der 30-jährige Agus Suprayitno gehört dazu. Er steht auf dem Damm, der den inzwischen sieben Quadratkilometer großen Schlammsee umgibt. Überall blubbert und stinkt es. „Da hinten“, sagt Agus und zeigt auf das Dach einer Moschee, dessen Spitze aus der zähen, braunen Masse ragt, „das war mein Wohngebiet“. Früher hat seine Familie auf eigenem Grund und Boden mit gesalzenen Enteneiern gehandelt. Heute – im Mietshaus – darf er das nicht mehr. Der Besitzer fürchtet Schäden wegen des Salzes. Und ein eigenes Haus kann sich der Vater eines Sohnes nicht leisten.

200 Millionen Rupien (etwa 17.000 Euro) Entschädigung hat Lapindo seiner Familie für ihr Land gezahlt, das entsprach 20 Prozent der festgesetzten Summe. Das Geld wurde unter Agus’ Eltern und seinen fünf Geschwistern geteilt. Die restlichen 80 Prozent sollten bis Mitte 2008 folgen. „Darauf warten wir bis heute“, sagt Agus. Er schaut bitter unter seiner Baseball-Kappe hervor und schluckt. Seine Frau und seinen kleinen Sohn sieht er nur noch alle paar Monate, sie sind bei Verwandten untergekommen, etwa fünf Stunden von Porong entfernt. „Ich wollte nicht, dass sie weiter hier in diesem Gestank leben, der uns alle krank macht“, sagt Agus. Auch seine fünf Brüder und Schwestern sind weggezogen. „Früher lebten wir alle gemeinsam auf dem Land meiner Vorfahren“, sagt Agus. „Doch dann hat man uns wie Samen im Wind verstreut“.

„Unmittelbar nach der Katastrophe herrschte eine riesige Solidarität unter den Opfern“, erinnert sich Paring Waluyo Utomo, Koordinator der nichtstaatlichen Organisation Lafadl Initiatives, die die Betroffenen unterstützt. „Aber Familien und Dorfgemeinschaften brachen durch Umsiedlung und den Kampf ums Geld auseinander.“ Dennoch haben Menschenrechts- und Umweltorganisationen versucht, die Schuldfrage auf gerichtlichem Wege zu klären. Doch alle juristischen Entscheidungen fielen zugunsten von Lapindo aus. „Bakrie ist nun mal sehr mächtig“, sagt ein Mitarbeiter der Regierungsbehörde BPLS (Badan Penanggulangan Lumpur Sidoarjo), die für die Schlammkatastrophe eingesetzt wurde.

Die zähe Masse bricht sich überall Bahn

„Es war einfach nicht möglich, Lapindo etwas nachzuweisen“, ergänzt der Beamte, der nicht namentlich genannt werden will. Mehr als vier Jahre nach seinem Ausbruch spuckt der Vulkan noch immer rund 100.000 Kubikmeter Schlamm pro Tag. Und auch außerhalb des Damms um den Schlammsee hat sich die unberechenbare zähflüssige Masse Bahn gebrochen. In einem Hinterhof in Siring Barat, frisst sich ein stinkendes, blubberndes grünes Schlammloch immer weiter in die Ruinen eines Hauses hinein, dessen Bewohner längst das Weite gesucht haben. Ein rotes Schild warnt den Besucher vor giftigen Gasen und Erdrutschen. Laut dem Geologen Rudi Rubiandini wird über kurz oder lang in einem Radius von drei Kilometern das gesamte Gebiet kollabieren, weil sich durch den Austritt des Schlamms immer mehr unterirdische Hohlräume bilden.

In mehreren Dekreten des Präsidenten wurde festgelegt, dass die Dörfer in unmittelbarer Nähe des Schlammvulkans von der FirmaLapindo und weitere Ortschaften von der Regierung entschädigt werden. Die Menschen in Siring Barat hingegen wissen noch immer nicht, wohin. Der Mietzuschuss, um für zwei Jahre an einem anderen Ort ein Haus zu mieten, lief im Juli ab. Auf die Frage, was künftig mit den Menschen passieren soll, zuckt der Sprecher der Behörde BPLS die Achseln. „Wir warten auf das nächste Dekret des Präsidenten.“

Wenn der Wind steht, riecht es in Siring Barat nach faulen Eiern, nach dem Gas, das überall aus dem Boden tritt. Die Menschen klagen über Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Brechreiz, Husten – typische Symptome von Schwefelwasserstoffvergiftungen. Doch eine Anfrage beim BPLS nach den Auswirkungen der Katastrophe auf die Gesundheit der Anwohner blieb erfolglos: „Vielleicht gibt es Daten bei der lokalen Gesundheitsbehörde, vielleicht gibt es auch keine“, war die lapidare Antwort.

Die 44-jährige Fitri, deren Haus nur wenige Hundert Meter vom Schlammsee entfernt ist, kann ihre Hand nur langsam bewegen, nachdem sie vor sieben Monaten einen Schlaganfall erlitten hat. „Meine Tochter hat oft Husten, uns allen tut ständig der Kopf weh“, sagt sie. Anfangs habe die Regierung gratis Medikamente verteilt, aber das sei lange vorbei. „Außerdem“, sagt Fitri, „können wir Medikamente schlucken so viel wir wollen, es hilft ja nichts, der Schlamm und die giftigen Gase bleiben.“

Kampf für angemessene Entschädigungen

Unternehmer-Politiker Aburizal Bakrie sieht sich hingegen selbst als Opfer des Schlammvulkans. Wäre er nicht in hohen politischen Ämtern, gäbe es auch nicht diese Forderungen gegen ihn, ließ Bakrie kürzlich Journalisten in Jakarta wissen. Obwohl keine rechtliche Verpflichtung bestehe, habe Lapindo bislang 11.800 Opfer termingerecht entschädigt. 7,8 Trillionen indonesische Rupien habe der Konzern dafür bislang ausgegeben. Die Rufe der Schlamm-Opfer nach Entschädigung sind für ihn eine „Tyrannei der Minderheit“. „Die Medien berichten immer nur über die 200 Leute, die nicht mit unserer Entschädigung einverstanden waren“, klagt Bakrie.

Zu dieser „Minderheit“ gehört die 60-jährige Fischverkäuferin Sani. Auf eine Entschädigungszahlung, um neues Land zu kaufen, wartet sie bis heute. Lapindo hatte ihr Land als Ackerland eingestuft, was den niedrigsten Preis erzielt. Zudem forderte der Chef ihres Dorfes eine „Erfolgsprämie“ von 25 Prozent für die schnelle Abwicklung des Entschädigungsprozesses  – im korrupten Indonesien ein durchaus gängiges Verfahren. Die meisten der Nachbarn wollten schnell entschädigt werden und willigten ein.

Sanis Familie und 18 weitere waren hingegen nicht einverstanden. Sie forderten einen angemessenen Preis für ihr Land. Bis nach Jakarta vor den Präsidentenpalast sind sie gezogen – ohne Erfolg. Die nichtstaatliche Organisation Lafadl Initiatives hat inzwischen eine Kooperative für die Frauen in Sanis Viertel aufgebaut, die Kleinkredite vergibt. Denn Geld von der Bank bekommen sie ohne Sicherheiten schon lange nicht mehr. So kann Sani zumindest ihren Fisch ein- und verkaufen, auch wenn ihre Kunden oft anschreiben, weil ihnen das Geld ausgegangen ist.

Geologe Rubiandini zieht Vergleiche zur Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. „Dort bekam die US-Regierung Druck von der Opposition, von Umweltschützern und von engagierten Bürgern. Also machte sie Druck auf das Unternehmen, das Bohrloch zu schließen. Bei uns in Indonesien passiert – nichts“, kritisiert er. Der Geologe ist überzeugt, dass man den Schlammfluss stoppen kann. Die dafür nötige Methode wird „Dynamic Kill“ genannt. Schwerer Schlamm würde in die Eruptionsquelle gepumpt, um den Druck des darunter liegenden dünnflüssigeren Schlamms auszugleichen. Die Kosten seien mit etwa 100 Millionen US-Dollar (77,3 Millionen Euro) vergleichsweise gering und die nötige Expertise sei im Land vorhanden, betont Rubiandini.

Doch der Regierung sind solche Lösungsvorschläge zu unsicher. „Den Schlammfluss zu stoppen, das ist nicht mehr unsere erste Priorität“, erklärt der Sprecher der Behörde BPLS. Katastrophen-Tourismus ist anscheinend attraktiver: Im Mai wurde bekannt, dass die indonesische Regierung 273 Milliarden Rupien (24,4 Millionen Euro) zur Verfügung stellen werde, um das Gebiet als geologisch interessantes Reiseziel zu vermarkten. An der Haupstraße von Porong, zwischen dem stinkenden Schlammsee und dem geisterhaft anmutenden Viertel Siring Barat, scheinen dafür schon die Weichen gestellt. Auf einem großen Transparent prangt der Schriftzug: „Wir sind stolz auf Sidoarjo.“

 

Anett Keller berichtet als freie Journalistin aus Indonesien.

erschienen in Ausgabe 10 / 2010: Artenvielfalt: Vom Wert der Natur
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