Frische auf den Tisch

Wie Chinas Metropolen ihren Lebensmittelbedarf decken

Von Kristin Kupfer

Mit einem Ruck legt Obsthändler Xu an seinem Stand in der Maizidian-Straße im Osten Pekings die nächste Melone auf die Waage. Seit einer knappen Stunde tut der drahtige Enddreißiger in Jeans und blauem Polohemd nichts anderes. Xus Stand steht am Eingangstor eines großen Wohnviertels. Es ist ein heißer Sommerabend und Abendessenszeit. Bewohner und Passanten wollen bei der Hitze nur eines: Erfrischung. Eine Frau kommt aus dem Eingang eines der siebenstöckigen Gebäude gerannt. Ihre Tochter habe einen Sonnenstich. Sie wolle nur Melone essen. Die saugt laut chinesischer Medizin die Hitze ab. Die wartenden Kunden nicken verständnisvoll. „Melonen sind wirklich ein Wundermittel“, lacht Xu.

Männer wie Xu sind wichtig im Leben der chinesische Städter. Kleinhändler wie er versorgen die Bewohner fast jederzeit und meist vor der Haustür mit frischem Obst und Gemüse. Das steht ganz oben auf dem urbanen Speiseplan: 123 Kilo Gemüse und mehr als 54 Kilo Obst verzehrte laut offiziellen Statistiken jeder chinesische Stadtbewohner im Jahr 2008. Fleisch aller Art liegt weit dahinter, Getreide genau dazwischen. Knapp 40 Prozent ihres Einkommens geben Städter für Nahrungsmittel aus, ärmere Familien sogar fast die Hälfte. Das restliche Geld fließt vor allem in Transport und Kommunikation. Kein Wunder – Logistik ist in Chinas Megastädten ebenfalls überlebenswichtig. Die Versorgung der urbanen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist für die Volksrepublik eine zentrale Herausforderung.

Lebensmittel in jeder Form prägen das Bild chinesischer Städte. Ein Obststand wie der von Xu steht vor fast allen großen Wohnvierteln in Peking. Geöffnet sind sie nach Laune des Besitzers – meist 12 Stunden am Tag. Die kleinen Lebensmittelgeschäfte in den Vierteln mit Getränken, Snacks und einfachen Fertiggerichten haben oft noch länger auf. In den großen Supermarktfilialen liegen Kohl, Tomaten und Sellerie zurechtgerupft und abgepackt etwas billiger neben anderen Waren. Die 24-Stunden-Läden wie Seven-Eleven wiederum bieten außer Joghurt und etwas Obst kaum Frisches. Aber dafür gibt es die unzähligen Imbissstuben und Restaurants in nahezu jeder Straße – mindestens eines hat auch die ganze Nacht auf. Saisonal und meist zur Abendessenszeit bieten zudem fliegende Händler eine Auswahl an Gemüse an. Später am Abend findet auch mancher Esel- oder Pferdekarren den Weg an den Großstadtrand. Deren Besitzer kommen direkt mit Obst von ihren Feldern in der näheren Umgebung.

Fast alle anderen Lebensmittelhändler besorgen sich ihre Produkte auf Großmärkten – über sie gelangen rund 70 Prozent der ländlichen Produkte in die großen Städte. Nach offiziellen Angaben gibt es insgesamt rund 4000 Großmärkte in Chinas Städten. Obsthändler Xu fährt alle zwei bis drei Tage zum Großmarkt Dayanglu im Süden Pekings. Dayanglu heißt übersetzt „große Schafsstraße“. Früher waren dort Weiden und wohl auch Schafe, meint Xu. Der Großmarkt liegt von den knapp ein Dutzend Märkten in der Hauptstadt am nächsten zu seinem Stand. Mit seinem silbernen Kleinbus braucht Xu morgens um halb fünf auf freien Straßen eine gute halbe Stunde. Ein, zwei Stunden später auf dem Rückweg dauert die Tour wegen des beginnenden Berufsverkehrs dann doppelt so lange. „Noch früher aufstehen schaffe ich nicht“, sagt Xu, der auf der Hinfahrt meist beide Fenster herunterkurbelt, damit ihn der Fahrtwind wach hält. Denn er macht seinen Stand oft erst gegen Mitternacht zu.

Bis vor zehn Jahren war Xu selbst Bauer in der zentralchinesischen Provinz Henan. Er baute Mais, Erdnüsse, etwas Gemüse und Obst an, vor allem Wassermelonen. Der Verkauf der eigenen Produkte war mühselig. Die Preise der staatlichen Getreidekäufer und der privaten Händler erschienen ihm undurchsichtig. Er verdiente gerade genug zum Leben. Ein Verwandter erzählte aus Peking, dass sich als Zwischenhändler gutes Geld verdienen lasse. Xus Töchter waren damals noch nicht schulpflichtig. Er und seine Frau zögerten nicht lange und zogen in die Stadt. Nach sechs Jahren als Händler hat er vor vier Jahren den Obststand von einem Landsmann übernommen. Er verdient nun etwas weniger. Aber das Leben sei ruhiger, meint Xu.

Zum Frühstück Mehlstangen und warme Sojamilch

Vor der Käufer-Einfahrt der Obstabteilung des Dayanglu-Großmarkts herrscht geschäftiges Gewusel. Kleinbusse und Lastwagen warten auf die Inspektion ihres Laderaums und auf die Einfahrtsgenehmigung. „Echt frisch, echt frisch“ und „echt frischer, echt frischer“  rufen Händler vor geöffneten Lastwagen direkt hinter der Kontrollschranke. Am Straßenrand bieten Imbissstubenbesitzer frittierte Mehlstangen und warme Sojamilch zum Frühstück an. Das gesamte Gelände mit Stellflächen, Hallen und Parkplätzen umfasst laut eigenen Angaben 326.000 Quadratmeter. Der größte Markt für landwirtschaftliche Produkte in Peking ist sogar drei Mal so groß. Hier auf dem Dayanglu-Markt kommen pro Tag 5000 Laster und 40.000 Kunden aus ganz China zusammen, heißt es auf der Internetseite des 1997 eröffneten Großmarktes.

Xu fährt langsam die Reihen der mit Melonen beladenen Lastwagen ab. Vor einem voll beladenen Wagen hält er an. „Ich habe dich zwischen all den Melonen fast gar nicht erkannt, Schwager“, sagt er und lacht. Der Schwager, ebenfalls vor Jahren aus Henan nach Peking gekommen, grinst und klopft gegen Xus Wagentür. Aus einer aufgeschnittenen Melone bietet er ein Probierstück an. Xu kostet und nickt. Gemeinsam laden sie den Kleinbus mit Melonen voll. Der Schwager holt sie immer nachmittags direkt von Bauern aus dem Bezirk Daxing südlich von Peking. Am nächsten Tag öffnet er dann ab vier Uhr morgens auf dem Dayanglu-Markt seine Ladefläche.

In Xus Bus passen fast 250 Kilo Melonen. Der Schwager kauft sie den Bauern für umgerechnet knapp acht Eurocent das Pfund ab; Xu legt einen halben Eurocent drauf. An seinem Obststand verkauft er die Melonen dann für zehn Cent. Xu und sein Schwager müssen jeweils ein Prozent des Kaufpreises für die Melonen als Steuer an die Marktverwaltung zahlen. „Vor 15 Jahren war hier noch Ackerland und die Bauern haben ihre Waren einfach angeboten“, erzählt der Schwager „aber mittlerweile hat sich die Stadt zu sehr ausgedehnt und sie kassiert für alles Gebühren.“  Dafür seien aber die Sicherheit und die Qualitätsprüfungen viel besser geworden, fügt er hinzu.

Zwei Stellgelände weiter nördlich zwischen Lastwagenreihen mit Chinakohl und Ständen mit Auberginenbergen schichtet Händler Jiang Min dicke Salatspargelstangen aufeinander. Seine Frau sitzt hinter ihm auf einem Hocker und schält einzelne Stangen grob ab. Damit es schneller geht, legt Käuferin Li selbst mit Hand an. Sie ist Angestellte einer Lieferfirma, die Hotels und Restaurants mit Nahrungsmitteln versorgt. Salatspargel kauft sie immer frisch bei Jiang. „Hier ist die Qualität gut und als alte Kundin bekomme ich einen guten Preis“, sagt die energische Frau in Jeans und Blumenbluse.

Der 43-jährige Jiang Min hat sich vor drei Jahren auf den Handel mit Salatspargel  spezialisiert. Er hat einen kleinen Lagerraum auf dem Großmarkt gemietet. Jeden Tag kauft er Hunderte Kilo Spargel, meist von Genossenschaftslieferanten aus den umliegenden Provinzen. „Salatspargel ist sehr gesund, zerquetscht nicht leicht und wird auch nicht so stark gedüngt“, erklärt Jiang. So wie viele auf dem Großmarkt war Jiang früher Bauer. In seiner Heimat in der östlichen Provinz Anhui hat er Mais, Weizen und Gemüse angebaut. Die Aussicht auf einen besseren Verdienst hat ihn vor mehr als zwölf Jahren nach Peking gelockt.

Direktvertrieb lohnt sich nicht

Das Leben der Bauern sei zwar besser, aber nicht unbedingt einfacher geworden, erzählt er. Viele Landwirte haben feste Abnahmeverträge mit Unternehmen oder sind bei Genossenschaften angestellt. Letztere sind zwar nominell oft in kollektiver Hand der Bauern, tatsächlich aber werden sie meist von privaten Händlern und der lokalen Regierung kontrolliert. Ein Direktvertrieb ist für den einzelnen Bauern noch weniger profitabel, und sich selbst zusammenschließen dürfen die Bauern nicht. „Von den steigenden Preisen profitieren Unternehmer, aber nicht die Bauern“, sagt Jiang, „kein Wunder, dass immer mehr Leute lieber in den Städten arbeiten wollen.“

Chinas Versorgungssystem für die Städte spiegelt die vielschichtigen Interessen in der Landwirtschaft wider. Gu Taoxue, Vize-Direktor der Pekinger Xinfadi Agrarprodukt GmbH und Betreiber des größten Großmarkts in China, kritisierte jüngst in einem Interview die starke Segmentierung und mangelnde Reglementierung der Branche. Für eine effizientere Versorgung wünscht er sich größere Produktionsgenossenschaften und klarere Vorschriften für die verschiedenen Marktteilnehmer bei der Qualitätsprüfung. Mit Direktverträgen zwischen Supermarktketten und ländlichen Genossenschaften wie in den USA werde experimentiert. Aber die Voraussetzung dafür sei eine Vergrößerung der ländlichen Produktionsunternehmen.

Damit tut sich die chinesische Regierung schwer. Der staatliche Bodenbesitz ist eines der wenigen Überbleibsel des sozialistischen Systems. Peking will die Industrialisierung der ländlichen Gebiete langsam vorantreiben. Allzu große private Genossenschaften oder gar autonome Bauernverbände duldet das Ein-Parteien-Regime nicht. Bei all dem bereitet die schwindende Selbstversorgung des Landes dem Staat zunehmend Kopfzerbrechen. Bei Sojabohnen und Milchprodukten ist China längst auf ausländische Importe angewiesen. Neben der fortschreitenden Industrialisierung verschärfen die Umweltzerstörung und immer häufiger auftretende Naturkatastrophen die Lage.

Gutes Essen, gutes Geschäft

Vor Nahrungsmittelknappheit fürchtet sich Restaurantbesitzerin Guo Guichen weniger. Auch im Chaos der Kulturrevolution (1966 bis 1976) hätten ihre Eltern sie und ihre acht Geschwister durchgebracht. Die Bauern mussten damals fast alles, was sie produzierten, zu festen Preisen an den Staat abgeben. Die Entkollektivierung und Wiedereinführung von Märkten nach 1978 haben Guo und ihre Familie als große Befreiung erlebt. In knappen Zeiten seien sie bis Mitte der 1980er Jahre mit Getreidemarken abgesichert worden, erzählt Guo, die wie der Obsthändler Xu in der zen-tralchinesischen Provinz Henan aufgewachsen ist. Die jüngeren Leute und besonders die Städter könnten heute kaum noch auch nur ein bisschen Hunger ertragen, meint die 51-Jährige.

Mit etwas Gespartem und einem Familienkredit haben sie und ihr Mann vor zwanzig Jahren ihren ersten Imbiss in der Hauptstadt eröffnet. Das größere Restaurant hat sie seit fünf Jahren. Beim Einkauf arbeitet sie mit verschiedenen Großmarktlieferanten zusammen. Lieber ein paar Cent mehr zahlen, dafür aber bessere Qualität bekommen, hat sie ihrem Sohn, der den Einkauf leitet, eingeschärft. Zufriedene Kunden sind der beste Garant für ein gutes Geschäft. Chinesen lieben es, zu essen, sagt Guo. In den vergleichsweise günstigen Gaststätten wird oft und gerne über Geschäftliches wie Privates debattiert. Guo mag den Restaurantbetrieb. „Aber manchmal habe ich fast Lust, wieder selbst ein bisschen anzubauen“, sagt sie, „und die Frische des Landes zurück in die Stadt zu holen.“

Kristin Kupfer ist Sinologin und arbeitet als freie Journalistin in Peking, unter anderem für den epd.

erschienen in Ausgabe 8 / 2010: Metropolen: Magnet und Molloch

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