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Nachhaltigkeitsziele
Konferenz in Addis Abeba
UN-Nachhaltigkeitsziele
Die Bewährungsprobe steht den neuen UN-Nachhaltigkeitszielen erst bevor: die Umsetzung. Gegner der fortschrittlichen Ziele kämpfen bereits darum, die Überprüfungsmechanismen zu schwächen.

Unmittelbar vor der feierlichen Verabschiedung der UN-Nachhaltigkeitsziele in New York, am 25. September, goss UN-Generalsekretär Ban Ki-moon Wasser in den Wein. „Die neue Agenda ist ein Versprechen von Staats- und Regierungschefs an die Menschheit, eine universelle, integrierte und transformative Vision für eine bessere Welt“, betonte er. „Der wirkliche Test aber, ob wir zu dieser Agenda stehen, wird ihre Umsetzung sein.“

Niemand zweifelt daran, dass die in New York von 193 UN-Mitgliedsstaaten einstimmig verabschiedete Agenda für nachhaltige Entwicklung das fortschrittlichste Programm ist, das die Weltgemeinschaft je beschlossen hat. Einige ihrer 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) mit ihren 169 Unterzielen, die anders als die Millenniumsziele (MDGs) für alle Länder der Welt gelten, sind geradezu revolutionär – vor allem wenn man überlegt, wer sie beschlossen hat.

Saudi-Arabien hat dem Ziel zugestimmt, Frauen bis 2030 gleichberechtigt zu behandeln und sie gezielt zu fördern. Die USA und Deutschland erklären sich bereit, die Einkommen der ärmsten 40 Prozent ihrer Bürger stärker wachsen zu lassen als die des Durchschnittsbürgers – ohne Vermögenssteuer ist das kaum vorstellbar. Und das Ende absoluter Armut und jeder Art von Hunger bis 2030 macht in vielen Entwicklungsländern eine staatliche Umverteilung nötig, die bisher an der Gier mächtiger Eliten gescheitert ist.

Dass die Ziele so weitreichend sind, hat einen Grund. Noch nie ist bei den Vereinten Nationen ein Abkommen unter so breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft entstanden. Drei Jahre lang konnten nichtstaatliche Organisationen und sogar Einzelpersonen sich an der Formulierung beteiligen. In die Arbeit der „Offenen Arbeitsgruppe“ flossen mehr als acht Millionen Stimmen ein, die über das Internet gesammelt wurden. Die meisten, so freut sich Thomas Gass, der für politische Koordination zuständige Untergeneralsekretär der UN, seien jung, weiblich und aus Entwicklungsländern gewesen.

Die Regierungen quälen

Dass sie und nicht nur diplomatisch versierte Anzugsträger ein Dokument mitgeschrieben haben, das Ban Ki-moon als „Erweiterung der UN-Grundrechtscharta“ feiert, gefällt bei weitem nicht allen. Gewohnt war man bei den UN, in geschlossenen Verhandlungen kleinste gemeinsame Nenner zu definieren. „Wenn man diese Ziele ernst nimmt, dann könnten sie eine große sozial-ökologische Transformation einleiten“, sagt der entwicklungspolitische Beauftragte von Brot für die Welt, Thilo Hoppe, der in New York als Mitglied der deutschen Delegation am Gipfel teilgenommen hat. „Derzeit gibt es leider keine Anzeichen, dass die Staatsoberhäupter auch nur annähernd gewillt sind, das zu tun.“ Gass glaubt, dass die Ziele genutzt werden müssen, um Druck auf die Regierungen auszuüben. Und auch Hoppe fordert: „Man muss die Regierungen mit dem, was sie beschlossen haben, jetzt quälen.“

Dafür aber braucht es verlässliche Daten. Bei der Aushandlung der Nachhaltigkeitsziele zwischen 2013 und 2015 versuchten vor allem reiche Staaten immer wieder, weitreichende Ziele zu blockieren. Beispiel: Ein von Fachleuten dringend geforderter Umschuldungsmechanismus für Staatsschulden. Frankreich, Großbritannien, Australien und Japan konnten diesen frühzeitig verhindern. Übrig blieb das Ziel, Entwicklungsländern mehr Repräsentanz in globalen Finanzinstitutionen zuzugestehen, die Schuldenprobleme bearbeiten. Homosexuellenrechte blieben außen vor, weil allen voran Russland und China dies verhinderten.

Meist allerdings setzten sich in der offenen Arbeitsgruppe, in der die SDGs ausgearbeitet wurden, die progressiven Stimmen durch. Als die Agenda vorlag, rieben sich besonders reiche Industrie- und Ölstaaten die Augen. Saudi-Arabien bemühte sich noch im April, das Thema Klimawandel zu streichen. Doch die in der G77 zusammengeschlossenen Entwicklungsländer, die die Nachhaltigkeitsziele beim Umweltgipfel 2012 in Rio auf die Tagesordnung gesetzt hatten, setzten sich durch. Sie verhinderten, dass das Gesamtpaket noch einmal aufgeschnürt wurde. Hinter den Kulissen wiesen sie geschickt darauf hin, dass im Fall eines Aufschnürens auch von ihnen noch kostspielige Nachforderungen kommen könnten. Im Frühsommer einigten sich die Diplomaten darauf, den Springteufel lieber in der Box zu lassen. Die Nachhaltigkeitsagenda war beschlussreif.

Vorsicht vor schwammigen Indikatoren

Umso mehr könnten Blockierer jetzt versuchen, die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zu torpedieren. So könnten die Ziele mit Hilfe der Festlegung der Indikatoren, anhand derer man Erfolge misst, leicht verwässert werden. „Wenn man sich etwa auf Datensätze einigt, die schwammig, aber leicht zu erheben sind, dann ist das gut für all diejenigen, die nichts erreichen wollen“, warnt Marwin Meier, der für die Entwicklungsorganisation Worldvision an der Erarbeitung der Gesundheitsziele in der Nachhaltigkeitsagenda mitgearbeitet hat. Er glaubt: „Die Diskussion ums Technische ist noch lange nicht zu Ende.“ Und weil es sich um eine technische Debatte handelt, ist die öffentliche Aufmerksamkeit gering. „Das Thema Kinder- und Müttersterblichkeit muss diesmal ganz vorne stehen, weil es schon bei den Millenniumszielen nicht erreicht wurde“, fordert Meier. „Dafür brauchen wir mehr Indikatoren als die zwei pro Unterziel, die bislang vorgesehen sind.“ Nötig seien mindestens vier.

Daten aber gibt es nicht umsonst, und in den meisten Ländern liegen sie nicht vor. Manchmal hat das politische Gründe. In Indien etwa war die HIV-Rate jahrelang erstaunlich niedrig, weil die Behörden die Infektionen nicht registrierten. Nur über Zahlen zur Tuberkulose und anderen Folgeerkrankungen von HIV konnten Statistiker schließlich auf die tatsächliche Rate schließen. Meistens ist das Problem aber finanzieller Natur. „Daten müssen so leicht zu erheben sein, dass ein Land wie Venezuela nicht 50 neue Statistiker ausbilden und anstellen muss“, erklärt Marwin Meier. Klar sei aber auch: „Wenn man Änderungen erreichen möchte, dann muss man Geld in die Erhebung verlässlicher Daten investieren.“

Bereits im März sollen globale Indikatoren für die Überprüfung der Nachhaltigkeitsziele beschlossen werden. Geplant sind derzeit etwa 300 messbare Vorgaben für alle 169 Einzelziele. Einzelne Staaten dürfen zusätzlich eigene Indikatoren nutzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat schon angekündigt, dass Deutschland im Frühjahr als erste Nation einen Fahrplan zur nationalen Umsetzung vorstellen wird. Das hören Organisationen wie Brot für die Welt gerne, die Deutschland eine Vorreiterrolle bei der Aushandlung der Nachhaltigkeitsziele bescheinigen und diese jetzt auch bei der Umsetzung fordern.

Über Verzicht will niemand sprechen

Welche komplizierten Fragen bei der Diskussion über die überprüfbare Umsetzung noch auftauchen könnten, zeigt eine Studie des Potsdamer Nachhaltigkeitsinstituts IASS. Die besagt, dass die derzeit weltweit verfügbaren Nutzflächen gar nicht ausreichen würden, um alle UN-Nachhaltigkeitsziele zu Armut, Energie- und Ernährungssicherheit und zu wirtschaftlichem Wachstum zu erreichen. „Länder werden bei der Umsetzung Prioritäten setzen müssen“, sagt der IASS-Gründungsdirektor Klaus Töpfer. In Deutschland mit seinem hohen Wohlstandsniveau sei es sinnvoll, über eine Begrenzung des wirtschaftlichen Wachstums zu reden. Doch über Verzicht wollte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) am Rande des Nachhaltigkeitsgipfels lieber nicht sprechen.

Innerhalb des UN-Systems genießen die Nachhaltigkeitsziele breite Unterstützung und werden als Reformagenda für die 70 Jahre alte Organisation gefeiert. Viele gute Ideen zur Umsetzung sind deshalb aus ihren Reihen zu erwarten. Etwa die des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Seid Ra'ad al-Hussein, der zur Überprüfung der Menschenrechtsaspekte – ein Querschnittsthema der SDGs – das erprobte Verfahren der universellen Menschenrechtsprüfung (Universal Periodic Review, UPR) vorgeschlagen hat. Das führt der UN-Menschenrechtsrat seit Jahren durch. „Die Rechte gerade der Schwächsten und Verletzbarsten müssen auf dem Weg nach 2030 eingehalten werden“, unterstreicht er. Der Vorteil eines bereits existierenden und anerkannten Verfahrens liegt auf der Hand. Weit weniger klar ist, ob sich die Mehrheit der Staaten sich so genau auf die Finger schauen lassen will.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2015: Blauhelme: Abmarsch ins Ungewisse
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