Blick in die dunkle Vergangenheit

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Indonesien ist in diesem Jahr bei der Frankfurter Buchmesse zu Gast. Das bietet dem deutschen Publikum die Chance, ein grausames, aber kaum bekanntes Kapitel der jüngeren Geschichte des Landes zu entdecken.

Der Massenmord an Mitgliedern und Sympathisanten der Kommunistischen Partei Indonesiens in den Jahren 1965/66 zählt zu den gravierendsten und gleichzeitig am wenigsten bekannten Menschenrechtsverletzungen des 20. Jahrhunderts. Nach einem nie genauer untersuchten Putsch linksgerichteter Militärs attackierten nationalistisch-konservative Kräfte die vermeintlichen Staatsfeinde brutal: In weniger als vier Monaten massakrierten Angehörige von Armee und paramilitärischen Einheiten bis zu eine Million Menschen – mindestens aber 500.000, exakte Zahlen sind nicht bekannt. Mehrere Millionen wurden verschleppt, gefoltert und ohne Gerichtsurteile jahrelang auf entlegenen Inseln interniert. Sie verloren ihre bürgerlichen Rechte, ihre Angehörigen die wirtschaftliche Lebensgrundlage. Die KP Indonesiens, einst die drittgrößte kommunistische Partei der Welt, wurde zerschlagen und ist bis heute verboten.

Das offizielle Indonesien, das auf der Frankfurter Buchmesse seine vielfältigen Erzähltraditionen präsentieren wird, schweigt weiter zu den Ereignissen vor 50 Jahren. Allzu viele Parteigänger des 1998 geschassten Präsidenten Suharto, der die Massaker selbst mit angeordnet hatte, bekleiden noch immer hohe politische und militärische Ämter. So liegt die Verantwortung, das Tabu allmählich aufzuweichen, bei anderen gesellschaftlichen Gruppen – unter anderem bei den Schriftstellerinnen und Schriftstellern der jüngeren Generation. Zwei Autorinnen haben zu diesem dunklen Kapitel der Vergangenheit ihres Landes gut recherchierte und elegant geschriebene Romane vorgelegt. Beide Bücher sind vor drei Jahren in Indonesien erschienen und liegen seit Kurzem auf Deutsch vor.

Laksmi Pamuntjak erzählt in ihrem Erstling „Alle Farben Rot“ die Geschichte von Amba, die das Schicksal ihres früheren Geliebten Bhisma in Erfahrung bringen will. Amba begibt sich in der erzählten Gegenwart auf die damalige Gefangeneninsel Buru, weit weg von den großen Städten der Hauptinsel Java. Der KP-Sympathisant Bhisma verbrachte dort zehn Jahre seines Lebens, kehrte nach der Auflösung des letzten Gefangenenlagers jedoch nicht nach Hause zurück. „Jetzt erst, nach fast einem halben Jahrhundert des Wartens, fand sie Antworten auf ihre Fragen“, heißt es im Roman. „Und was war für sie wohl schwerer zu ertragen: zu wissen, wie Bhisma starb, oder wie es kam, dass sie damals, vor einundvierzig Jahren, voneinander getrennt worden sind?“

Ausgehend von Ambas Suche gestaltet Laskmi Pamuntjak eine epische Story auf mehreren Zeitebenen und aus verschiedenen erzählerischen Perspektiven. Sie zeigt eine junge Frau, die sich gegen mehrere Konventionen ihrer Zeit stellt und eine voreheliche Affäre mit dem zwölf Jahre älteren Mediziner Bhisma eingeht. Die Zustände in den Lagern zeichnet sie in Form mehrerer Briefe an die in der Heimat gebliebene Amba nach. Und dann tritt noch ein Informant auf, der die Polizei über Ambas Suche nach Bhismas Verbleib in Kenntnis setzt. Diese Figur verdeutlicht die anhaltende Angst staatlicher Stellen vor jenen Bürgern, die sich ein eigenes Bild von den verheimlichten Menschenrechtsverletzungen machen wollen. 

Der Roman „Alle Farben Rot“ transportiert zahlreiche historische Fakten und Informationen zu den geltenden Mentalitäten jener Zeit: Wie stand es um die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern? Wie wählte man einen Ehepartner? Welche Bedeutung hatte Bildung und wie sah man auf die Fremden, die Menschen von anderen Inseln oder aus dem Ausland? Dagegen verzichtet die  Autorin darauf, die grausamen Gewaltakte bei der Verfolgung der „Kommunisten“ zu beschreiben. Wenn die Romanhandlung beim Großkapitel „Bhisma – 1965“ ankommt, findet man statt detaillierter Schilderungen nur ein großes „X“ auf einer sonst leeren Seite. Die Gräueltaten der Todesschwadronen bleiben fürs Erste unausgesprochen. Man darf hoffen, dass dies keine literarische Kapitulation ist, sondern ein Platzhalter, der künftig mit zwar erschütternden, gewiss aber auch erhellenden, vielleicht sogar reinigenden Geschichten ausgefüllt werden kann.

Leila S. Chudori erzählt in „Pulang (Heimkehr nach Jakarta)“ von vier Journalisten, die der Verfolgung zufällig entkommen konnten und über mehrere Stationen nach Paris gelangt sind. Dort eröffnen sie ein indonesisches Restaurant, das zur Ersatzheimat sowie zum Ausgangspunkt für  Aktionen der Exil-Community und für Rückblicke in das Indonesien vor den Massakern wird. Die Autorin versammelt in ihrem Roman eine Vielzahl von Personen, darunter einen fünften Freund, dem die Flucht misslingt und der in Jakarta den Tod findet. Es entsteht ein vielschichtiges Gemälde von Verfolgung, Flucht und Exil, zu dem auch die fortdauernde Einschüchterung durch Spitzel und Beamte der indonesischen Botschaft zählt.

Die Handlung von „Pulang“ umfasst den gesamten Zeitraum von Suhartos Diktatur und findet ihren gelungenen Höhepunkt in der Reise von Lintang, einer Frau aus der zweiten Flüchtlingsgeneration. Die Tochter eines der Exilanten ist die erste Person aus dem Pariser Zirkel, die Ende der 1990er Jahre nach Indonesien zurückkehrt, um einen Dokumentarfilm über die Massaker zu drehen. Unverhofft gerät sie in die Demonstrationen gegen Suharto und erlebt den jüngsten Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Mit dem Blick der Nachgeborenen, die die Realität des Jahres 1998 mit den Erinnerungen ihrer Eltern vergleicht, fragt sich Lintang: „Die Menschen in Indonesien sind trotz all der unfassbaren Tragödien imstande, ihre Traumata zu ertragen oder sie sogar zu vergessen (oder sind sie womöglich gezwungen, sie zu vergessen?). Die Geschichte spielt für die Menschen hier nicht die größte Rolle (oder verdrängen sie die Vergangenheit?).“

Einstweilen behindern maßgebliche Teile der indonesischen Eliten eine umfassende Auseinandersetzung mit den Massakern oder gar eine systematische Aufarbeitung. Schulbücher mit kritischen Darstellungen sind von den Behörden eingezogen und vernichtet worden. 2012 konnte eine eigens eingesetzte staatliche Menschenrechtskommission zwar einen auf Zeugenaussagen beruhenden Bericht veröffentlichen, in dem Verbrechen wie Mord, Freiheitsberaubung, Folter, Vergewaltigung und Vertreibung anerkannt wurden. Polizeiliche Ermittlungen dazu stehen jedoch weiter aus.

Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Laksmi Pamuntjak, Leila S. Chudori, aber auch Ayu Utami (siehe welt-sichten 3/2015) und der selbst auf Banu internierte Pramoedya Ananta Toer belegen, dass die erzählende Literatur in der Lage ist, die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der tabuisierten Geschichte voranzubringen. Allgemein könne „die Öffnung zur freien Meinungsäußerung und der freien Rezeption von Literatur in den letzten zehn, fünfzehn Jahren“ als eine „Wiederbelebung der Ära moderner indonesischer Literatur nach mehr als drei Jahrzehnten Stagnation gesehen werden“, meinte die javanische Lyrikerin Dorothea Rosa Herliany im vergangenen Jahr in einem Interview.

Die vorherrschende orale Erzähltradition und die geringe Zahl von Bibliotheken und Buchhandlungen im Vielvölkerstaat verhindern jedoch eine größere Verbreitung aktueller Romane. Dringliche Texte zur Selbstprüfung an ein aufnahmebereites heimisches Publikum zu bringen dürfte somit zur entscheidenden Herausforderung für die Literaturvermittler in Indonesien werden.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2015: Gesundheit: Ohne Fachkräfte geht es nicht
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