Am 2. Oktober 2013 wurde der Präsident des indonesischen Verfassungsgerichts, Akil Mochtar, in Jakarta verhaftet. Ein Team der Geheimdienste erwischte ihn bei einer Operation im Auftrag der Kommission für Korruptionsbekämpfung, als er gerade von einem Regierungsbeamten und einem Geschäftsmann Bestechungsgeld in bar im Wert von mehr als 260.000 US-Dollar entgegennahm. Dafür sollte er in einem Gerichtsverfahren, mit dem die Ergebnisse der jüngsten Lokalwahlen in der Provinz Zentral-Kalimantan auf der Insel Borneo angefochten wurden, zugunsten der Schmiergeldzahler entscheiden.
Autor
B. Herry-Priyono
leitet die Postgraduate-Abteilung der Driyarkara School of Philosophy in Jakarta. Seine Fachgebiete sind politische Ökonomie, Entwicklungstheorie und Globalisierung.Bald fanden die Ermittler heraus, dass Mochtar außerdem 88.500 Dollar von einem Mitglied der Familie angenommen hatte, die gegenwärtig die westlich von Jakarta gelegene Provinz Banten kontrolliert. Mit dem Geld sollte ebenfalls ein Gerichtsurteil in einem Streit über ein Wahlergebnis gekauft werden – in diesem Fall ein Urteil gegen den Wahlsieger. Damit rückte auch der Clan in den Blick, den die Gouverneurin von Banten, Atut Chosiyah, anführt. Sie regiert die Provinz seit 2005. Außerdem beherrschen Mitglieder der Chosiyah-Dynastie fünf der acht Regierungsbezirke, die zu Banten gehören.
Die Provinzregierung verfügt über ein Jahresbudget von umgerechnet mehr als einer halben Milliarde US-Dollar. Trotzdem bringt sie es nicht fertig, die Infrastruktur auszubauen oder ein Programm zur Armutsminderung aufzulegen. Deshalb gehört die Region, die nur zwei Autostunden von Indonesiens Hauptstadt Jakarta entfernt liegt, zu den ärmsten des Landes. Im Regierungsbezirk Lebak etwa lebt knapp die Hälfte der 1,27 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze und viele Kinder sind unterernährt.
Der Staasapparat bedient sich selbst
Dies mag surreal escheinen, aber es spiegelt die Bedeutung von „Entwicklung“ in Indonesien wider: Der Staatsapparat bedient sich selbst, die politischen Entscheidungsträger sind zu einer korrupten Clique von Finanzmaklern verkommen und Geschäftsleute lassen sich gegen Bezahlung öffentliche Aufträge zuschanzen. Die einfachen Bürger leben von der Hand in den Mund, als ob die Regierung für sie gar nicht existieren würde.
Im Indonesischen wird Entwicklung mit dem Wort „pembangunan“ bezeichnet. Es kann bedeuten, dass etwas im wörtlichen Sinne hergestellt oder gebaut wird. Zugleich kann es heißen, dass gemeinsame Anstrengungen für das Wohlergehen der Nation unternommen werden. In der ersten Zeit nach der Unabhängigkeit Indonesiens von Japan 1945 diente das Wort als Slogan im Kampf gegen die Überbleibsel der Kolonialherrschaft. Den Staatsapparat beherrschten die Nationalisten unter Präsident Sukarno bereits, und „Entwicklung“ diente als Schlachtruf dafür, anstelle der kolonial geprägten Wirtschaft des Landes eine nationale zu schaffen. Das wichtigste Instrument dafür waren Verstaatlichungen.
Doch sie verbanden sich bald mit heftigen Machtkämpfen zwischen der Armee und der Kommunistischen Partei. In diesem vergifteten Klima unternahmen 1965 Teile des Militärs einen Putschversuch. Oberbefehlshaber Suharto schlug den Versuch nieder und ordnete eine Jagd auf die – an dem Putschversuch unbeteiligte – Kommunistische Partei an.
Bei der Verfolgung von tatsächlichen und mutmaßlichen Kommunisten wurden zwischen 400.000 und einer Million Indonesier ermordet. General Suharto übernahm mit seinen technokratischen Wirtschaftsexperten die Regierung und führte das Regime der sogenannten „Neuen Ordnung“ ein. Es bestand bis 1998 und stellte eine Art Vernunftehe dar zwischen einer autoritären Regierung und wirtschaftlicher Liberalisierung.
Während der 32-jährigen Regierungszeit von Suharto wurde „Entwicklung“ zur geheimnisumwobenen nationalen Ideologie erhoben; es wurde zum universellen Etikett für alle Arten von Programmen. Besonders seit Beginn der 1980er Jahre wurde Entwicklung nur noch im engen wirtschaftlichen Sinn verstanden. Der Einbruch der Ölpreise 1982 zwang das Regime, das Land überstürzt für den Weltmarkt zu öffnen. Seither folgte die Politik dem Weg der Strukturanpassungsprogramme, wie sie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds verordneten: Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung. Indonesien wurde eng in die globale Wirtschaft eingebunden und völlig von ihren Schwankungen abhängig.
Als daher die ostasiatische Finanzkrise 1997 auch Indonesien erfasste, brach das Regime der „Neuen Ordnung“ zusammen. Der Sturz von Diktator Suharto im Mai 1998 wurde freudig begrüßt, doch der Zusammenbruch der Ordnung löste zugleich Angst aus. Das öffentliche Leben geriet in vieler Hinsicht aus den Fugen: Korruption griff um sich, Gewalt vonseiten radikaler Gruppen nahm überhand, das Gesundheitswesen funktionierte nicht mehr und der Staatshaushalt wurde hemmungslos geplündert. Vor diesem Hintergrund müssen die Entwicklungsprobleme im heutigen Indonesien verstanden werden.
"Entwicklung", Modernisierung und repressive Politik
Im Rückblick wird deutlich, dass sich die Auffassung von „Entwicklung“ verändert hatte. Ursprünglich war sie eng verbunden mit dem Kampf um Unabhängigkeit, wurde dann aber zur Ideologie der Modernisierung. Da diese auf diktatorische Weise umgesetzt wurde, identifizierte man bald Entwicklung mit den raffgierigen Praktiken des autoritären Regimes. Als dies 1998 infolge von Protesten der Bevölkerung gestürzt wurde, wurden Begriffe wie „Entwicklungsorientierung“ lächerlich gemacht, weil sie dem System der Diktatur zugeordnet wurden. Die repressive Politik hatte zu einer Abwertung des Begriffs geführt.
Doch nun tritt schnell ein Paradox zutage: Je weniger Entwicklung stattfindet, desto mehr wird sie herbeigesehnt. Wie ist das zu erklären? Vermutlich begreifen die Menschen Entwicklung als eine gemeinsame Anstrengung, um die Lebensqualität im weitesten Sinne zu verbessern. Da die Regierungen seit 1998 auf diesem Gebiet nicht viel zu bieten hatten, ist das Bedürfnis nach Entwicklung umso stärker geworden.
Doch jetzt steht ihr ein anderes Hindernis entgegen. Zwar wird Entwicklung nicht mehr mit der Diktatur assoziiert, dafür aber umso mehr mit der im heutigen Indonesien grassierenden Jagd nach Pfründen und öffentlichem Geld. Das tritt besonders zutage, wenn Unternehmer, Politiker und Beamte den Entwicklungshaushalt plündern. Alle erdenklichen Methoden werden eingesetzt, um öffentliches Geld abzuschöpfen: Kosten werden künstlich aufgebläht, aber weniger Geld ausgegeben; Ausschreibungen werden mit Schmiergeldzahlungen manipuliert; und es wird für Projekte abkassiert, die es niemals gegeben hat. Dabei ist es ein Leichtes, sich die Unterstützung der jeweiligen Regionalregierung, der parlamentarischen Ausschüsse und der Gerichte zu kaufen.
Der eingangs erwähnte Fall ist nur einer von vielen. Zunächst ging es nur um den obersten Verfassungsrichter, aber dann kamen ständig neue Verflechtungen ans Tageslicht. Die Chosiyah-Dynastie hatte sich jahrelang Entwicklungsgeld angeeignet, das für das Bildungswesen, die Infrastruktur und das Gesundheitswesen bestimmt war. Sie hatte sich auch nicht gescheut, Mittel zu veruntreuen, die der Sozialhilfe zugutekommen sollten.
Solche Praktiken waren auf nationaler wie auf regionaler Ebene verbreitet. So musste die Weltbank 2010 feststellen: „Die Müttersterblichkeit in Indonesien bleibt mit 229 Todesfällen pro 100.000 Geburten unvermindert hoch und gehört zu den höchsten in Ostasien.“ Ein eingeschworener Klüngel von Geschäftsleuten, Beamten und Politikern nutzt das „Projekt Entwicklung“ als Vorwand, um sich auf verschiedene Arten selbst zu bereichern. Das Wort „Projekt“ (indonesisch proyek) ist unter der indonesischen Bevölkerung bereits zum Schimpfwort geworden.
Abwertung durch politische Misswirtschaft
Der Begriff „Entwicklung“ wird durch die politische Misswirtschaft weiter abgewertet. Nicht dass es so etwas unter dem Regime der „Neuen Ordnung“ nicht gegeben hätte. Aber die 1998 erhobenen Forderungen nach einer Demokratisierung bewirkten, dass die zuvor auf einen engen Personenkreis beschränkte Praxis der Veruntreuung dezentralisiert wurde und sich immer weiter ausbreitete. Laut dem Indonesien-Experten Jeffrey Winters hat sich eine „kriminelle Demokratie“ entwickelt, „in der unkontrollierte Oligarchen bei den Wahlen gegeneinander antreten“.
Nicht die Entwicklung an sich ist das Problem, sondern die Tatsache, dass sie für die private Aneignung öffentlicher Gelder missbraucht wird. Die Regierung nutzt den Begriff für jeden Zweck, der ihren Zielen dient, und der Wirtschaft dient er als Vorwand, sich ohne Gegenleistung an Entwicklungsgeldern zu bereichern. Ein Netzwerk aus Politikern und Geschäftsleuten dominiert Theorie und Praxis der Entwicklung in Indonesien so stark, dass das Wohlergehen der Bevölkerung, das doch das eigentliche Ziel sein sollte, allenfalls ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt der Selbstbereicherung ist.
Wie kann es gelingen, Entwicklung wieder in sinnvolle Bahnen zu lenken?
Zweifellos ist diese Aufgabe ebenso komplex wie die Reform der gesamten politischen Verhältnisse in Indonesien. Das Wichtigste ist jedoch, dass die Souveränität der lokalen Gemeinwesen wiederbelebt werden muss. Sie müssen gegenüber der Übermacht des raffgierigen Klüngels aus Politik und Wirtschaft wieder mehr Spielraum für selbstständige Entscheidungen bekommen. Das heißt auch: Alle Entwicklungsprogramme müssen gemeinsam mit der örtlichen Bevölkerung entworfen und verwirklicht werden.
Das hört sich einfach an, doch kann eine solche Strategie nur unter bestimmten Voraussetzungen funktionieren. Eine ist, dass mehr Druck ausgeübt werden muss, um eine Reform der Entwicklungspolitik und eine wirksamere Bekämpfung der Korruption durchzusetzen. Auch müssen engagierte Fachleute ausgebildet werden, die in der Lage sind, die Arbeit an der Basis gegenüber den parasitären Machteliten abzuschirmen. Wenn Hilfe von ausländischen Regierungen und Organisationen dieses Ziel hat, wird sie auch Früchte tragen.
Aus dem Englischen von Anna Latz.
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