Wo „Narcos“ die Gesetze schreiben

Drogenstaat Paraguay
Paraguay bemüht sich um eine moderne Drogenpolitik. Doch der Einfluss der Drogenbarone reicht bis ins Büro des Präsidenten.

Candido Figueredo ist kein gewöhnlicher Journalist. Er wird rund um die Uhr von zwei Polizisten mit Maschinenpistolen beschützt. Wann immer er das Haus verlässt, steckt er sich seine eigene 9-Millimeter-Pistole in den Hosenbund. Der gut gelaunte 59-Jährige berichtet seit 20 Jahren von einem ungewöhnlichen Ort: Pedro Juan Caballero, einer gesetzlosen Stadt an der nordöstlichen Grenze Paraguays, wo ein Menschenleben noch billiger ist als das Marihuana und das Kokain, die über die grüne Grenze in großen Mengen nach Brasilien gelangen.

„Hier ist ein Leben nichts wert“, sagt Candido. „Manchmal findet die Polizei morgens eine Leiche und wirft sie auf die andere Seite der Grenze. Dann haben sie weniger Papierkram.“ Er holt einen Stapel Fotos hervor: geheime Friedhöfe, Leichen mit verstümmelten und verbrannten Gesichtern, Opfer, die von Schüssen aus einem vorüberfahrenden Auto getötet wurden, ein Drogenhändler, der ein Doppelspiel getrieben hatte und in Stücke gerissen wurde. Jährlich werden seit 2010 mindestens 120 Personen in der 100.000-Einwohner-Stadt getötet. Der Grund für das Gemetzel: Pedro Juan ist das Epizentrum wechselnder Trends im internationalen Drogenhandel.

Von hier wird Kokain bis nach Europa geschleust

Cannabis ist seit Langem ein Hauptprodukt der fruchtbaren roten Erde Paraguays. Es wird von Kleinbauern angebaut und auf lokalen Märkten verkauft. Die Militärdiktatur von Alfredo Stroessner (1954-1989) hatte den Schmuggel von Waren aller Art, da runter auch Kokain, streng kontrolliert und davon profitiert. Doch die zunehmenden Hürden, Drogen in die Vereinigten Staaten zu transportieren, sowie die rasch wachsende Bevölkerung in den Megastädten in Brasilien machen den Markt im südlichen Teil Südamerikas lukrativer denn je. In Kolumbien, Peru und Bolivien hergestelltes Kokain wird zunehmend durch Paraguay nach Brasilien, Argentinien und sogar bis nach Afrika und Europa geschleust.

Das Gleiche gilt für Marihuana, das heute das bevorzugte Exportprodukt regionaler Drogennetzwerke ist. Nach Schätzungen der nationalen Anti-Drogen-Behörde (SENAD) ist Paraguay – ein Land von der Größe Kaliforniens mit knapp sieben Millionen Einwohnern – Südamerikas größter Marihuana-Produzent, und vier Fünftel des Produkts landen in Brasilien.

Die gewaltigen Ströme illegaler Drogengelder haben große Teile der politischen Klasse Paraguays, des Militärs, der Polizei, der Justiz und der Medien korrumpiert und halten das Land in Unterentwicklung gefangen – das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist nach Bolivien das niedrigste in Südamerika. Zudem fördert das Drogengeld die Kultur der Straflosigkeit.

Figueredo ist vernünftig genug, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Die wenigen Journalisten, die es wagen, ihre Meinung zu sagen, werden zum Schweigen gebracht. Er zeigt auf das Loch einer Kugel, als sein Haus aus einem fahrenden Auto heraus beschossen wurde. Das ist in den letzten Jahren zweimal passiert. Er entkam unverletzt, aber andere hatten nicht so viel Glück: Sein Kollege Pablo Medina von der überregionalen Tageszeitung ABC Color wurde im Oktober 2014 ermordet. Er war schon der vierte Journalist, der wegen seiner Berichte über den Drogenhandel in den letzten 18 Monaten im nördlichen Paraguay erschossen wurde. Doch speziell Medinas Ermordung löste eine landesweite Welle der Empörung und des Nachdenkens aus – vielleicht weil sie unmissverständlich offenbarte, wie eng verflochten Politik und Drogenhandel in Paraguay sind. Ein Wort begann die Runde zu machen: „Narcopolítica.“

Einer der Mörder von Medina war Wilson Acosta Marques, der Bruder des Bürgermeisters des nahe gelegenen Distrikts Ypejhu, Vilmar „Neneco“ Acosta Marques. Medina und seine Kollegen hatten Neneco wiederholt beschuldigt, er habe Verbindungen zum organisierten Marihuana-Handel. Er verbüßte 2010 eine Haftstrafe, aber nur wenige Wochen. Medina wiederholte seine Anschuldigungen gegen Neneco in den Jahren darauf, und Zeugenaussagen zufolge hatte dieser telefonisch den Befehl gegeben, Medina zu töten. Der Bürgermeister floh nach Brasilien, wo die Behörden derzeit über seine Auslieferung nach Paraguay beraten.

Doch Figuren wie Neneco und die Geschäfte, die sie treiben, könnten ohne politischen Schutz nicht existieren. Zu diesem Schluss kam im Juni auch eine Kommission der paraguayischen Abgeordnetenkammer und des Senats. In Medinas Fall geht man davon aus, dass Nenecos Schutzherr der ehemalige Gouverneur des Departamento Canindeyú ist, zusammen mit der Kongressabgeordneten Cristina Villalba, auch als „Königin des Nordens“ bekannt. Untersuchungen der Polizei förderten Beweise für enge Verbindungen zwischen den beiden zutage.

Obwohl sie kaum politische Erfahrung vorweisen konnte, wurde Villalba von Präsident Horacio Cartes nach seiner Wahl 2013 zur Sprecherin seiner Partei im Abgeordnetenhaus ernannt. Cartes, ein schwerreicher Unternehmer, hatte wegen Betrugs im Gefängnis gesessen. Laut unzähligen Berichten, inoffiziellen Informationen und Gerüchten soll er außerdem in Geldwäsche, Zigaretten- und Goldschmuggel sowie Drogenhandel verwickelt gewesen sein. Zu den Quellen zählen auch Berichte der US-amerikanischen Drogenvollzugsbehörde DEA und der Bundessteuerbehörde IRS. Obwohl nichts bewiesen wurde, sprechen die Fachleute von der Organisation InSight Crime von einem „Berg an Indizien“, der für Paraguay und die Region sehr beunruhigend sei.

Neneco, Villalba und Cartes verbindet ihre Mitgliedschaft in der Colorado-Partei (ANR-PC), der politischen Bewegung, die unter der Diktatur Alfredo Stroessners (1954–1989) Paraguay praktisch alleine beherrschte. Abgesehen von fünf Jahren war die Colorado-Partei in den letzten 68 Jahren ununterbrochen an der Macht. Die Mehrheit derjenigen, die vom Drogenhandel profitieren, gehört der Colorado-Partei an, obwohl die schwache oppositionelle Liberale Partei auch darin verwickelt ist.

Angenehmes Leben im Gefängniss

Ein typisches Beispiel ist der 51-jährige Magdaleno Silva, ehemaliger Kongressabgeordneter und lokaler Vorsitzender der Colorado-Partei im Departamento Concepción. Er wurde im Mai vor seinem Haus aus einem fahrenden Auto heraus erschossen. Die Ermittler nehmen an, dass er in einem Streit um Drogenreviere getötet wurde. Die Polizei verhaftete Anfang August einen verdächtigen Drogenbaron, Cornelio Esquivel Maldonado, nur um ihn wenige Stunden später wegen „Kommunikationsproblemen“ wieder freizulassen.

Nach der Intervention eines anderen Staatsanwalts wurde Maldonado kurz darauf wieder verhaftet. Allerdings gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Drogenhändler selbst im Gefängnis ein angenehmes Leben haben und von dort ihre Geschäfte weiter steuern. Ein lokaler Cannabis-Anbauer, der wegen Kokainhandels auch in brasilianischen Gefängnissen saß, erklärt, die Haft in Paraguay sei verglichen mit der in Brasilien dank Bestechung und Korruption geradezu luxuriös: „Wenn man Geld hat, kann man im Gefängnis in Paraguay alles bekommen.“ Die örtliche Mafia arbeitet mit kriminellen Netzwerken zusammen, die Kokain und Marihuana nach Brasilien schleusen; Beispiele sind das Comando Vermelho (Rotes Kommando) in Rio de Janeiro und das Comando da Capital (Erstes Kommando der Hauptstadt) in São Paulo. Die Polizei und teilweise auch das Militär profitieren durch Erpressung und Bestechung ebenfalls vom Drogenhandel.

Die SENAD ist vermutlich die einzige Sicherheitsbehörde, die durch Drogengelder und Korruption noch nicht völlig geschwächt ist. Die Regierung unter Präsident Cartes ist seit einigen Jahren bemüht, Paraguays Image zu verbessern und Anreize für Investitionen aus dem Ausland zu schaffen. Seitdem hat sich die 1991 gegründete Anti-Drogen-Behörde zu einer aktiven Kraft im Kampf gegen den Drogenhandel entwickelt.

Laut SENAD-Minister Luis Rojas verfolgt die Behörde eine dreigleisige Strategie: Erstens soll der Drogenhandel finanziell geschwächt werden, indem Kokainlieferungen an der Grenze und auf verborgenen Landepisten im nördlichen und östlichen Paraguay beschlagnahmt und Cannabis-Plantagen in Waldreservaten zerstört werden. Die Strategie beginnt Früchte zu tragen: 2009 zerstörten SENAD-Agenten 1126 Hektar Cannabis-Felder und beschlagnahmten 82.385 Kilo Marihuana sowie 1410 Kilo Kokain. 2013 waren es bereits 1803 Hektar, 461.893 Kilo Marihuana und 3313 Kilo Kokain. Das reduziert die Millionengewinne der Drogenhändler um etwa ein Drittel bis um die Hälfte. Damit bleibt ihnen weniger Geld, um Beamte zu bestechen und die Politik zu kontrollieren. Rojas erklärt: „Heute verstehen wir, dass der Drogenhandel ein Geschäft ist und als Unternehmen Geld verdienen will. Wir müssen die Struktur, die Schaltzentrale des Drogenhandels angreifen – das sind die Finanzen.“

Kriminelle im Kongress 

Der zweite Pfeiler des „Nationalen Anti-Drogen-Plans“ besteht in der Entflechtung von Politik und Drogengeldern. So soll die Finanzierung politischer Kampagnen transparenter gestaltet werden, sodass die Drogenbarone die Bürgermeister und Kongressabgeordneten nicht mehr so leicht bestechen können. Zudem soll es für den Staat einfacher gemacht werden, die Waren und das Vermögen von Leuten zu konfiszieren, gegen die wegen Drogenhandels ermittelt wird oder die bereits im Gefängnis sitzen. So sollen sie daran gehindert werden, ihre kriminellen Geschäfte vom Gefängnis aus fortzuführen.

Diese Strategie wird jedoch dadurch erschwert, dass mehrere mutmaßlich einflussreiche Kriminelle im Kongress sitzen. Ein „Anti-Narco“-Gesetz wurde Ende August dieses Jahres abgelehnt, weil es gegen die Verfassung verstoße. Es hätte der Staatsanwaltschaft ermöglicht, das Vermögen von Personen zu beschlagnahmen, gegen die ermittelt wird. Kritiker fragen denn auch: „Wer wacht über die Wächter?“ Solange sogar der Präsident beschuldigt werde, Verbindungen zu Drogenhändlern zu haben, werde der Kongress wohl kaum wirksame Gesetze verabschieden, die der „Narco-Politik“ die Grundlage entziehen könnten. Rojas betont indes, er habe die „volle Unterstützung“ des Präsidenten, doch er gibt zu, dass es angesichts der bestehenden Verhältnisse schwierig sei, Fortschritte zu erzielen. „Wie sollen wir die Unterstützung des Kongresses bekommen, wenn die Abgeordneten selbst Narcos sind?“, fragt er.

Drittens sieht der Anti-Drogen-Plan vor, den Drogenkonsum, mit den Worten von Rojas, „nicht nur als ein strafrechtliches Problem, sondern auch als ein Problem der öffentlichen Gesundheit“ zu behandeln. Es liegt zwar viel im Ermessen der örtlichen Polizei, aber Marihuana- und Kokainkonsumenten werden gewöhnlich nicht hart bestraft. Die SENAD hat erste Rehabilitationszentren eingerichtet. Dort können Süchtige sich weiterbilden, ihre Gesundheit und ihr Selbstwertgefühl durch Sport verbessern und etwas über die Gefahren des Drogenkonsums lernen. Captain Oscar Chamorro, der Chef des militärischen Arms der SENAD, behauptet, Paraguay habe „eine modernere Drogenpolitik als viele der entwickelten Länder“.

"Die Mafia macht sich das Elend der Kleinbauern zunutze"

Die SENAD führt zudem Kurse für ländliche Gemeinden durch, die gefährdet sind, in den Marihuana-Anbau verwickelt zu werden. Sie lernen, welche Nutzpflanzen rentabel sind und wie sie höhere Einkommen erzielen. Rojas und Chamorro bestehen darauf, dass arme Subsistenzbauern nicht gezwungen seien, Cannabis anzubauen. Paraguays Campesinos hätten mehr als genug fruchtbares Land, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, ohne das Gesetz zu brechen. Wer Marihuana anbaue, wolle es exportieren, Profit machen und in den einträglicheren Kokainhandel einsteigen.

Andere vertreten jedoch die Auffassung, die Kleinbauern könnten gar nicht verhindern, in den Drogenhandel verwickelt zu werden, denn sie säßen in der Falle: Auf der einen Seite breite sich die Agrarindustrie mit ihren Plantagen immer weiter aus, während gleichzeitig die Preise für traditionelle Feldfrüchte fallen. Und auf der anderen Seite kontrollierten die Drogenhändler das Land. „Die Mafia macht sich das Elend der Kleinbauern zunutze“, sagt Eladio Flecha, Generalsekretär der linksgerichteten linken Partido Paraguay Pyahura (Partei für ein neues Paraguay). „Wenn die Campesinos ihre Feldfrüchte nicht verkaufen können und der Staat sie nicht unterstützt und ihnen Kredit gewährt, dann stellt die Mafia eine echte Versuchung dar.“ Kritiker sagen, das Niederbrennen der Cannabis-Plantagen und die Zerstörung von Cannabis-Farmen verstärkten den Teufelskreis der Armut, wenn nicht zugleich andere Möglichkeiten des Überlebens geboten werden.

Manche sagen, es sei nicht gelungen, den Drogenhandel einzudämmen; die Legalisierung, zumindest von Marihuana, sei die einzige Antwort. Doch Paraguay ist ein zutiefst konservatives und katholisches Land, in dem die Entkriminalisierung von Drogen nur wenige Befürworter hat. Senator Blas Llano von der PLRA erklärte im März 2015, die Legalisierung würde „den Geschäften der Narcos ein Ende bereiten“. Doch die vereinzelten kritischen Äußerungen zur Prohibitionspolitik, die von liberaler Seite kommen, sind politisch motiviert und richten sich gegen die Colorado-Partei, ohne echte Alternativen vorzuschlagen.

Autor

Laurence Blair

ist Journalist und Lateinamerika-Experte. Er berichtet für den „Guardian“, den „Economist“ und verschiedene Medien in Bolivien, Chile, Paraguay und Peru.
Das Linksbündnis Frente Guasu hat ebenfalls angeregt, sich auf regionaler Ebene um eine Legalisierung zu bemühen. Das Bündnis steht jedoch politisch im Abseits, seitdem sein Führer Fernando Lugo 2012 als Präsident von Paraguay entmachtet wurde. Dieser Akt, den Brasilien und Argentinien als „konstitutionellen Staatsstreich“ bezeichneten, beendete die einzige Periode in Paraguays neuerer Geschichte, in der nicht die Colorado-Partei oder die Liberale Partei an der Macht waren. Rojas hält dagegen, die Regierung müsse zuerst das ganze Ausmaß des Drogenhandels und seine Wirkungen untersuchen, bevor sie die Legalisierung in Erwägung ziehen könne.

Doch letztlich ist der Drogenhandel ein regionales Problem, und Paraguay fängt gerade erst an, mit Brasilien, Bolivien und Argentinien enger zu kooperieren, um die Nachfrage nach und das Angebot an Drogen zu senken. Eine verstärkte Zusammenarbeit mit Ermittlern aus den USA oder mit den Vereinten Nationen könnte Paraguay helfen, die Drogenbarone im Kongress, bei den Sicherheitskräften und in der Justiz aufzuspüren. Allerdings setzt das den ernsthaften politischen Willen und vollständige Transparenz bei Präsident Cartes voraus – und hängt nicht zuletzt von den mächtigen kriminellen Organisationen ab, die ihn Gerüchten zufolge unterstützen.

Bis dahin fällt Journalisten wie Candido Figueredo die Aufgabe zu, die Wahrheit ans Licht zu bringen. „Vielleicht bin ich ein bisschen idealistisch, aber ich möchte mein Teil dazu beitragen, dass alles aufgedeckt wird“, sagt er. „Klar, sie könnten mich jeden Augenblick umbringen. Daher sage ich zu meiner Frau: Wenn wir Geld haben, dann lass uns Lachs essen und Champagner trinken, und wenn wir keins haben, dann leben wir eben von Brot und Wasser. Aber wir werden glücklich sein. Man muss das Leben auskosten, bis sie einen töten. So habe ich gelernt, in den letzten 20 Jahren zu leben.“

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erschienen in Ausgabe 10 / 2015: Gesundheit: Ohne Fachkräfte geht es nicht
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