Tausende Zuhörer drängten sich im August 2007 in der Royal Albert Hall in London. Sie wollten das mitreißende Debüt des venezolanischen Dirigenten Gustavo Dudamel und seines Simón-Bolívar-Jugendorchesters miterleben. Als ich beschwingt das Konzert verließ, beschloss ich, nach Venezuela zu reisen und dieses Phänomen zu studieren.
El Sistema, das musikalische Bildungsprogramm, auf dem das Orchester fußt, ist laut eigenen Angaben ein „soziales Programm des venezolanischen Staates, das zum Ziel hat, Kinder und junge Leute durch den Musikunterricht und das gemeinsame Musizieren pädagogisch, beruflich und ethisch zu retten“. Es startete 1975 mit einem einzelnen Orchester. Heute besteht es offiziell aus etwa 400 Musikschulen (núcleos) und doppelt so vielen Orchestern mit insgesamt mehr als 600.000 Teilnehmern. Es zeichnet sich vor allem durch das gemeinsame Lernen beim Musizieren und einen dicht gefüllten Zeitplan aus. Viele Schüler verbringen an fünf oder sechs Tagen in der Woche vier oder mehr Stunden in der Musikschule. Die Instrumente bekommen sie geliehen und der Unterricht kostet wenig oder gar nichts.
Finanziert wird das Programm von der venezolanischen Regierung sowie von internationalen Entwicklungsbanken, die etwa 500 Millionen US-Dollar als Kredite zur Verfügung gestellt haben. Laut der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) verbessert das Programm die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen und fördert ihre psychische Entwicklung. Die Zahl der Schulabbrecher und die Jugendgewalt seien zurückgegangen. El Sistema habe „die künstlerische Welt transzendiert und in ein soziales Entwicklungsprojekt verwandelt“, das die Teilnehmerinnen und Teilnehmer „von frühester Jugend an mit bürgerlichen Werten und Teamarbeit vertraut machen will“.
El Sistema spricht erfolgreich die Gefühle an
Der Anspruch, Armut zu bekämpfen und die soziale Integration voranzubringen, hat das Programm weltweit bekannt gemacht. Aber auch aus der Musikwelt kommt außerordentliches Lob: Der britische Stardirigent Sir Simon Rattle bezeichnete es als „das weltweit wichtigste Ereignis in der Musik“. Mit dem Zusammenwirken von Kindern, populärer klassischer Musik und einer bewegenden Geschichte spricht El Sistema erfolgreich die Gefühle an. Dieser Effekt ist sorgfältig berechnet. Bolivia Bottome, ehemals bei El Sistema verantwortlich für institutionelle Entwicklung und internationale Beziehungen, erklärt: „In Venezuela nennen wir keine Zahlen, um Geld einzuwerben – wir demonstrieren unsere Arbeit. Wir bringen die Leute dazu, dass sie sich hinsetzen und einem Kinderorchester zuhören, das die zweite Sinfonie von Mahler spielt, dann geben sie uns Geld.“
Die meisten Versuche, das Programm zu verstehen, sind deshalb von Gefühlen geleitet. Sogar ein führender IDB-Mitarbeiter räumte unter vier Augen ein, er habe El Sistema im Laufe von 17 Jahren rund 160 Millionen US-Dollar geliehen. Veranlasst habe ihn dazu in erster Linie, dass er die Kinder musizieren hörte – nicht etwa der Nachweis der sozialen Wirksamkeit des Programms. Jonathan Govias, ein bekannter Kritiker, hat in Gesprächen über El Sistema eine Tendenz zum „geistigen Rausch“ beobachtet: „die Dinge nicht im richtigen Verhältnis zu sehen, der Propaganda zu glauben, übertrieben begeistert zu sein“. Das führt zu einem Paradox: Das Programm ist Gegenstand zahlreicher Artikel, Dokumentarfilme, TV-Sendungen, Bücher, Dissertationen und Blogs, sperrt sich aber gleichsam gegen eine rationale Analyse und wird so nur unzureichend verstanden.
Drill statt Kreativität
Als ich nach Venezuela kam, war auch ich „berauscht“ von Dokumentationen und Artikeln mit erstaunlichen Bildern und Klängen. Doch im Lauf meiner Forschungen entdeckte ich eine ganz andere Wirklichkeit – das Gegenteil der Revolution im künstlerischen Lernen, die ich erwartet hatte. Die pädagogischen Methoden und der Lehrplan des Programms sind antiquiert und eher auf Drill als auf Kreativität oder kritisches Denken ausgerichtet. Disziplin und Autorität sind die zentralen Werte, und trotz der schön klingenden Behauptungen der IDB bemüht sich El Sistema nicht direkt um staatsbürgerliche Erziehung.
Es ist ein zutiefst konservatives Programm. Seine Kernideen sind sehr alt: Programme, die mit musikalischer Bildung die Armen erziehen sollen, gibt es in Europa seit Jahrhunderten. Ähnliche Projekte gehen in Lateinamerika bis zur Eroberung durch die Spanier zurück. Der Konservatismus verdankt sich dem Gründer des Projekts, José Antonio Abreu, der von den internationalen Medien als Heiliger dargestellt wird, in Venezuela jedoch einen zwiespältigen Ruf hat. Die beiden Journalisten Roger Santodomingo und Rafael Rivero attestieren ihm eine undurchsichtige, verschwenderische Verwaltung von Geld, ein autoritäres Management, Show statt Substanz sowie illusorische Projekte mit wenig beeindruckenden Ergebnissen. Rivero nannte Abreu ein „philanthropisches Ungeheuer“.
Die Strukturen in Abreus Institution sind autokratisch, hierarchisch und undurchsichtig. Sowohl personelle als auch finanzielle Ressourcen werden nach oben geschleust – zu den Show-Orchestern, die weltweit auf Tournee gehen. Der Unterricht für kleine Kinder in den Núcleos wird am schlechtesten bezahlt und ist am geringsten angesehen, die Mittel sind oft knapp. Fern von den Kameras und offiziellen Delegationen arbeiten viele unzufriedene Lehrer unter schlechten Bedingungen. Viele werden nach Stunden bezahlt und erhalten kaum Sozialleistungen.
Auch die Behauptung, El Sistema sei ein soziales Programm, das sich an die Ärmsten richtet, muss hinterfragt werden. Viele Musiker, mit denen ich sprach, bezweifelten, dass die „Rettung“ der Armen wirklich Priorität hat. In den Schulen, die ich untersuchte, fehlte es an beidem: an besonders benachteiligten Kindern und an Strategien, sie gezielt anzusprechen.
Kein Modell für eine ideale Gesellschaft
El Sistema gründet wesentlich auf der von Gustavo Dudamel formulierten Idee, das Orchester sei „ein Modell für eine ideale globale Gesellschaft“. Sie wird jedoch von wissenschaftlichen Studien über Orchester oder Berichten von Musikern wenig gestützt. Sie zeichnen ein wesentlich düstereres Bild. In Venezuela ist das Orchester ein Modell einer autokratischen und patriarchalischen Gesellschaft, in der Figuren wie Abreu und Dudamel unangefochten Macht ausüben. Im Simón-Bolívar-Orchester liegt das Geschlechterverhältnis bei 80 Prozent Männern zu 20 Prozent Frauen. Alle wichtigen Dirigentenposten sind mit Männern besetzt. Weniger offensichtlich, aber noch beunruhigender sind die verbreiteten, wenn auch nur unter vier Augen geäußerten Vorwürfe der sexuellen Belästigung, des sexuellen Missbrauchs und sexueller Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern.
Die meisten meiner Vorstellungen haben sich also als falsch erwiesen. Aber warum war niemandem etwas aufgefallen? Manche Leute hatten etwas bemerkt, es aber für sich behalten. Die, die sich äußerten, wurden übertönt vom medialen Rummel und blieben im Allgemeinen auf Medien beschränkt, die wenig Beachtung finden, etwa spanischsprachige Blogs. Eine unabhängige, wissenschaftliche Untersuchung hatte nie stattgefunden.
So wurde die öffentliche Wahrnehmung von El Sistema weitgehend von der Presseabteilung der Organisation geprägt sowie von ausländischen Journalisten und Fans, die für Kurzbesuche den roten Teppich ausgerollt bekamen. Sie hatten bei ihrer Ankunft den Sistema-Mythos bereits verinnerlicht, und wenige blieben lang genug oder schauten aufmerksam genug hin, um ihn zu hinterfragen. Zudem haben zwei ungewöhnlich charismatische und überzeugende Männer, Abreu und Dudamel, zur Verbreitung des Mythos beigetragen.
Tränen in den Augen trüben den kritischen Blick
Am wichtigsten jedoch ist der Einfluss der Musik. Die kalkulierte Wirkung des Auftritts von riesigen Chören und Orchestern hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich El Sistema einer aufmerksamen Prüfung entziehen konnte. Wie kann man kritische Fragen stellen, wenn man Tränen in den Augen hat, nachdem man einen Chor aus Benachteiligten erlebt hat oder ein Meer von Kindern, die Beethoven aufführen? Wenn die gefühlsbeladene Geschichte, dass Kinder vor einem Leben mit Drogen und Verbrechen gerettet werden, von erhebenden Melodien begleitet wird, dann sind nur wenige Beobachter fähig zu fragen, ob sie auch stimmt. Die Macht der Musik erklärt, warum ein Publikum das offenbar patriarchalische Simón-Bolívar-Orchester als Vorbild für soziale Gerechtigkeit oder den umstrittenen Abreu als einen würdigen Kandidaten für den Friedensnobelpreis betrachten kann – er war 2012 offiziell nominiert.
Musik ist ein zweischneidiges Schwert und El Sistema bietet eine Gelegenheit, tiefer über ihren Beitrag zur Entwicklung nachzudenken. Das emotionale Potenzial der Musik macht sie zu einem großartigen, aber mit Risiken verbundenen Werkzeug: Sie kann das rationale Urteilsvermögen trüben und Probleme und Ungerechtigkeiten verschleiern. In der Geschichte der westlichen Zivilisation stand man der Musik – und der Kunst generell – meistens ambivalent gegenüber, es wurden ihr gute und schlechte Wirkungen zugeschrieben. Kunst galt als eine Quelle der Korruption und auch der Ablenkung mit potenziell schädlichen Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft.
Schöne Klänge mit hässlichen Nebenwirkungen
In den vergangenen Jahren hat sich die Sicht durchgesetzt, Musik sei etwas Gutes. Doch sie ist nicht uneingeschränkt gut und musikzentrierte Entwicklungsprojekte sind nicht zwangsläufig segensreich. Wenn uns Musik wirklich wichtig ist, sollten wir den kritischen Blick behalten. Wenn wir sie als ambivalent betrachten, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass wir uns von zauberhaften Klängen verleiten lassen zu übersehen, auf welche Weise das Musizieren von Machtproblemen, Konflikten und Konkurrenz überschattet wird. Es ermutigt uns, näher hinzuschauen und herauszufinden, ob einige Musik-Projekte besser als andere sind oder welche attraktiven Programme vielleicht schädliche Nebenwirkungen haben.
Autor
Geoffrey Baker
ist Dozent am Fachbereich Musik des Holloway College der Universität London. Sein Buch „El Sistema: Orchestrating Venezuela’s Youth“ ist bei Oxford University Press erschienen.Nach Ansicht Scotts sind kleine, anpassungsfähige Organisationen besser für eine demokratische Erziehung geeignet. Tatsächlich haben mich lokale und dezentrale Projekte während meiner Forschungen am stärksten beeindruckt. Sie hatten nur einen Bruchteil des Ruhmes und des Geldes von El Sistema, aber bei ihnen war eine günstigere soziale und pädagogische Dynamik zu erkennen. Sie arbeiteten von unten nach oben, und statt auf Drill sind sie auf Zusammenarbeit und Kreativität ausgerichtet.
In jüngerer Zeit sind in Lateinamerika fortschrittliche kulturelle Entwicklungsprogramme wie Pontos de Cultura und Cultura Viva Comunitaria entstanden. Die Pontos werden als „kulturelle Hotspots“ von der brasilianischen Regierung gefördert, können aber frei wählen, was sie anbieten: Theater, Tanz, Musik – traditionell oder experimentell. Cultura Viva Comunitaria ist ein Kontinent übergreifendes Netzwerk von Aktivisten und Organisationen. Beide Initiativen sind geprägt von horizontalen Strukturen, Autonomie und kultureller Vielfalt. Welten liegen zwischen ihnen und El Sistema. Letzteres begeistert zweifellos die Welt – aber wenn wir wollen, dass das Potenzial der Musik für Entwicklung voll ausgeschöpft wird, müssen wir woanders suchen.
Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
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