Es ist Rush-Hour auf dem Boulevard Álvaro Obregón. Auf vier Spuren drängen die Autos von Osten her ins Zentrum von Mexiko-Stadt, stauen sich vor der Kreuzung mit der Avenida Insurgentes, wo das gleiche hupende Gedränge herrscht. Ein Verkehrspolizist versucht laut trillernd, den Ampeln Geltung zu verschaffen. Ein ähnliches Chaos herrscht auch im Rest der Stadt. Denn das Gedränge auf den Straßen ist enorm: 3,5 Millionen Autos keilen sich täglich um 10.000 Kilometer Straßennetz. Dazwischen jagen sich 30.000 schrottreife Kleinbusse in waghalsigen Manövern gegenseitig Fahrgäste ab. Hinzu kommen 130.000 Taxis, die größte Flotte der Welt. Deren Fahrer betrachten die Straßenverkehrsregeln gewöhnlich als unverbindliche Empfehlung der Stadtverwaltung.
Zehn Stockwerke über dem Dauerstau auf dem Boulevard Álvaro Obregón thront Verkehrsbürgermeister Armando Quintero, Veteran der Stadtpolitik. Er weist aus dem Fenster und sagt: „Die nordamerikanische Subkultur, das Auto und den Beton als Gott zu haben, hat auch Mexiko verseucht.“ Selbstkritisch fügt er hinzu: „Wir haben einen Rückstand von 50 Jahren im öffentlichen Verkehr.“ Das Zentrum für nachhaltigen Verkehr (CTS), Mexikos größte Lobby-Organisation dieser Art, liefert die Zahlen dazu. Rund 40 Prozent der täglich 49 Millionen Fahrten im Großraum der Hauptstadt werden in Kleinbussen zurückgelegt, von denen der jüngste 15 Jahre alt ist. Dass sie heute das dominierende Verkehrsmittel sind, ist das Ergebnis früherer Privatisierungseuphorie. 1996 ersetzte die damalige Stadtregierung das städtische Busnetz weit gehend durch Tausende von Einzelunternehmern.
Autor
Matthias Knecht
arbeitet als Auslandskorrespondent in Lateinamerika für die Nachrichtenagentur epd, die „Neue Zürcher Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“.Zehn Prozent der Verkehrsleistung trägt die Metro, über deren 200 Kilometer umfassendes Netz die Stadt längst hinausgewachsen ist. Nach jahrzehntelanger Vernachlässigung gilt sie als Verkehrsmittel der Armen. Der Rest verteilt sich auf Taxis, auf die noch bestehenden traditionellen Buslinien, auf Fußgänger und die wenigen Fahrradfahrer. Wer es sich leisten kann, setzt auf das eigene Auto. Sein Anteil an den täglichen Fahrten beträgt 17 Prozent, die Tendenz ist steigend.
Die Stadtregierung will diesen Trend umkehren. „Wir erobern den Raum zurück, den die Autos in Beschlag genommen haben“, sagt Quintero. Akribisch zählt der Ökonom die Details des vor drei Jahren beschlossenen „integralen Mobilitätsplans“ auf. Die Buslinien wertete die Regierung mit eigenen Spuren auf, die veralteten Trolleybuslinien renovierte sie. Geplant sind weitere konzessionierte Linien. Bei der Metro stoppte die Stadtregierung den jahrelangen Fahrgastschwund. Mit besserer Beleuchtung und einem Überwachungssystem mit 3300 Kameras geht sie gegen das Schmuddel-Image vor. Eine weitere Metrolinie ist im Bau, eine Straßenbahn geplant.
Hinzu kommt eine Kampagne für den nicht-motorisierten Verkehr. Die Angestellten der Stadt sind gehalten, jeden ersten Montag im Monat mit dem Fahrrad zu kommen. Der linksgerichtete Oberbürgermeister Marcelo Ebrard fährt als leuchtendes Beispiel voran. Und zugunsten der Fußgänger ließ Ebrard erst im Dezember die Madero-Straße für die Autos sperren, eine zuvor stark befahrene Straße im Zentrum. Die 16 Stadtbezirke wurden aufgefordert, ebenfalls Fußgängerzonen einzuführen. Das grün anmutende Verkehrskonzept von Mexiko-Stadt brachte dem Oberbürgermeister bereits internationale Beachtung ein. Er trat beim Klimagipfel in Kopenhagen auf, wurde von US-Präsident Barack Obama zur Audienz geladen und präsentierte seine Pläne vor der Weltbank in Washington.
Als strategischer Kopf hinter Ebrards Verkehrskonzept gilt Felipe Leal, oberster Planer der Hauptstadt. Der international renommierte Architekt präsentiert sich als unverwüstlicher Radfahrer. Am Eingang seiner Behörde im Süden steht ein halbes Dutzend frisch eingetroffener Räder für die Angestellten. „Damit keiner sagt, ich fahre Auto, um eine Arbeit ein paar Blocks weiter zu erledigen“, erklärt Leal und geht mit gutem Beispiel voran: „Ich fahre von hier ins Zentrum mit dem Fahrrad. Das ist eine Stunde Weg.“
Noch ist das meiste von Mexikos grüner Verkehrswende Zukunftsmusik. Eine Kostprobe ist ein paar Meter von Leals Büro entfernt auf der Avenida Insurgentes zu sehen, der zentralen Nord-Südachse der Hauptstadt und beliebte Adresse von Banken und Geschäften der gehobenen Klasse. Auf den inneren Spuren der Avenida donnern im 40-Sekundentakt Großraum-Gelenkbusse der neuesten Generation vorbei am Dauerstau. Der Zugang zu den hellen und sauberen Haltestationen erfolgt mit elektronisch lesbarer Gebührenkarte. Unter den wartenden Menschenmassen befinden sich auffällig viele Geschäftsleute in Anzug und Krawatte.
Metrobus heißt das System in Mexiko, das international als Busway oder Bus Rapid Transit (BRT) bekannt ist. Nahezu eine halbe Million Fahrgäste täglich befördern die inzwischen zwei Metrobuslinien der Stadt, zusammen 50 Kilometer lang. Und das zu einem geringen Preis: Fünf Peso, ungefähr 25 Eurocent, kostet eine Fahrt. Das deckt sämtliche Betriebskosten. Das Metro-Ticket ist zwar schon für drei Peso zu haben, aber dafür muss die Stadtkasse nochmals das Doppelte drauflegen. Auch bei den Investitionskosten hat der Metrobus die Nase vorne und ist mindestens zehn Mal günstiger als die Metro.
Vor allem sein gutes Image unterscheidet den Metrobus von den anderen öffentlichen Verkehrsmitteln. Seit seiner zunächst zögerlichen Einführung im Jahr 2004 ist es erstmals gelungen, Autofahrer zum Umsteigen zu bewegen. 15 Prozent der Benutzer lassen laut Umfragen den eigenen Wagen daheim stehen, um den Bus zu nehmen. Die Universität Harvard hat das Projekt im November ausgezeichnet und es Entwicklungsländern zur Nachahmung empfohlen. Es sei innovativ, verbessere die Lebensqualität der Verkehrsteilnehmer und schütze zudem die Umwelt, hieß es zur Begründung. Bürgermeister aus der ganzen Welt pilgern inzwischen nach Mexiko-Stadt, um den Metrobus zu studieren.
Erfunden wurde der Metrobus bereits 1968 in der brasilianischen Modellstadt Curitiba. Erstmals in einer Metropole eingeführt hat das Schnellbussystem die kolumbianische Hauptstadt Bogotá unter dem Namen Transmilenio im Jahr 2000. Dort musste die Stadtverwaltung allerdings anfangs die Armee anfordern, um freie Busspuren durchzusetzen. In Mexiko hat man die Gegner in das Geschäft eingebunden, um Konflikte zu vermeiden. Mehr als tausend Kleinbusse waren vor der Einführung des Metrobus auf der Avenida Insurgentes unterwegs. Deren Betreiber machte die Stadtverwaltung in monatelangen Verhandlungen zu Miteigentümern der Fahrzeugflotte von Metrobus. Die alten Kleinbusse kaufte die Stadt für umgerechnet 5000 Euro das Stück auf – und verschrottete sie.
Die Lobby-Organisation CTS wertet die Fortschritte dennoch zwiespältig. Mexiko-Stadt habe einen „historischen Wechsel“ vollzogen und sei nun auf der „Lernkurve“, lobt CTS-Vizedirektor Salvador Herrera. Doch der Stadtplaner mit Zusatzabschluss einer Pariser Eliteschule hätte mehr erwartet, nämlich ein umfassendes Netz an Metrobussen: „Das hätte innerhalb von sechs Jahren in großem Maßstab den Verkehr in der Stadt verändert.“
Zehn neue Metrobuslinien hatte Oberbürgermeister Ebrard bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren versprochen. Nach der Wirtschaftskrise, die Mexiko extrem hart getroffen hat, ruderte er zurück. Fünf oder sechs Linien dürften es bis zu seinem Amtsende 2012 bestenfalls werden. Stattdessen konzentrierte sich Ebrard früh auf zwei Prestigeprojekte: eine Straßenbahn für das Stadtzentrum und die neue Metrolinie 12 in den Südosten. Das Budget für letztere liegt derzeit bei 17 Milliarden Peso, rund 850 Millionen Euro. Das hätte locker für die zehn Metrobuslinien gereicht, von der wesentlich mehr Menschen profitiert hätten.
Lobbyist Herrera führt die Bevorzugung der Metro auf ein weit verbreitetes „Wahrnehmungsproblem“ zurück: „Die Metro wird mit der ersten Welt assoziiert, mit technologischer Entwicklung.“ Die Opposition wirft Ebrard zudem vor, Straßenbahn und Metro mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2012 zu favorisieren. Denn dort ist traditionell der Oberbürgermeister der Hauptstadt chancenreicher Kandidat. Erfolgreiche Hightechprojekte machen sich da gut.
Zwiespältig sehen Verkehrsexperten auch das ehrgeizige Fahrradkonzept der Regierung Ebrard. Am 15. Februar startete er das Pilotprojekt des „öffentlichen Fahrrads“. 1114 Räder können seither im Zentrum der Stadt zwischen 5 Uhr und Mitternacht ausgeliehen und an jeder beliebigen der 82 Stationen zurückgebracht werden. Vorbild sind ähnliche Projekte in Barcelona und Paris. 24.000 Teilnehmer werden bereits im ersten Jahr erwartet, danach soll der flexible Fahrradverleih möglicherweise auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet werden.
Fahrradlobbyist Bernardo Baranda, Leiter des mexikanischen Ablegers des US-Instituts für Verkehr und Entwicklungspolitik (ITDP), gehört zu den Initiatoren und Beratern des Projekts. „Wir müssen unsere Kultur ändern. Das Auto darf nicht Priorität haben“, sagt der in Holland ausgebildete Verkehrswegeplaner und Ingenieur. Wie es um Mexikos Fahrradkultur bestellt ist, zeigt eine Testfahrt mit ihm. Nach fünf Minuten endet sie abrupt vor der Motorhaube einer tobenden Autofahrerin, die Baranda und die ausländischen Reporter mit Mexikos umfangreichem Vokabular an Schimpfwörtern eindeckt. Nicht dass die Dame im Recht gewesen wäre. Ihr Zorn richtete sich vielmehr gegen die schiere Existenz von Zweirädern auf der Straße.
Ganze 37 Kilometer Radweg gibt es in Mexiko-Stadt bisher, so zum Beispiel in der Durango-Straße. Es ist ein aufgepinselter roter Streifen, dessen Farbe bereits abblättert und über den der Autoverkehr selbstverständlich hinwegbraust, auch der Streifenwagen der Verkehrspolizei. „Es ist völlig realitätsfremd zu erwarten, die Autofahrer würden einen Farbstreifen mitten auf der Straße respektieren“, sagt Baranda schulterzuckend.
Wie es auch anders geht, demonstriert er zehn halsbrecherische Fahrradminuten entfernt an der Kreuzung der Avenida Nuevo Leon mit Citlatépetl. Sie wurde mit seiner Beratung vergangenes Jahr umgebaut. Kleine Pfosten verengen die Fahrspuren, die zuvor gefährliche Überquerung der befahrenen Kreuzung ist jetzt für Fahrradfahrer und Fußgänger entspannt möglich. 300.000 Pesos hat das Pilotprojekt gekostet, rund 15.000 Euro. „Mit wenig Geld kann man die Sicherheit für Fußgänger und Fahrradfahrer erheblich verbessern“, erklärt Baranda seine Philosophie. Zehn weitere Kreuzungen wollen Baranda und seine zwölf Mitarbeiter jetzt in Mexiko-Stadt umbauen.
Stadtplaner Leal räumt ein, dass noch viel zu tun ist: „Unsere bisherigen Erfolge entsprechen bei weitem nicht dem, was die Stadt braucht.“ Aber er gibt sich optimistisch: „Wir pflanzen den Samen. Von dieser Linie kann niemand mehr abweichen.“