Putin auf Reagans Spuren

Dass Russland die Ukraine destabilisiert, wird in Europa und den USA scharf verurteilt. Doch so verwerflich das ist – Putins Reaktion ist typisch für Großmächte, die sich bedroht fühlen. Gerade in den USA hätte man das wissen müssen.

Es war einmal eine Großmacht, die sorgte sich, ihr ewiger Rivale könnte sie schwächen. Ihre Führer waren überzeugt, der Rivale sei stärker und versuche, überall seinen Einfluss zu vergrößern. Tatsächlich mischte sich dieser ewige Rivale an Orten ein, die die absteigende Großmacht stets als eigenen Hinterhof betrachtet hatte. Um ihre Einflusssphäre zu sichern, hatte sie seit langem sehr einseitige Beziehungen zu ihren Nachbarn gepflegt: Viele wurden von korrupten und brutalen Oligarchen regiert, die nur deshalb an der Macht waren, weil sie sich den Launen des mächtigen Nachbarn unterwarfen.

Eines Tages aber stürzte das Volk eines dieser Vasallenstaaten den korrupten Führer, der sofort außer Landes floh. Die Anführer des Aufstands beeilten sich, sich mit dem weit entfernten Rivalen der benachbarten Großmacht zu verbünden. Sie schätzten dessen Ideologie und wollten sich zugleich vom großen Nachbarn distanzieren. Der hartgesottene konservative Regent dieser Großmacht, die nun wirklich sehr besorgt war, befahl, im früheren Vasallenstaat Rebellen zu bewaffnen, um dessen neue Regierung zu schwächen und sie möglicherweise wieder zu stürzen.

Klingt vertraut, oder? Doch die Großmacht in dieser Geschichte ist nicht Russland, der hartgesottene Führer ist nicht Putin und der bedrängte schwache Nachbar ist nicht die Ukraine. Sondern die Großmacht waren die Vereinigten Staaten, der Führer war Ronald Rea­gan und der unglückliche Nachbar war Nicaragua.

Anfang der 1980er Jahre dachten viele US-Amerikaner, die Sowjetunion werde stärker und Moskaus Appetit wachse. Diese Ängste verhalfen Ronald Reagan ins Weiße Haus. Reagan war fest entschlossen, Übergriffe der Sowjetunion in die westliche Hemisphäre zu stoppen. Die Sandinisten in Nicaragua hatten gerade den mit den USA verbündeten Diktator Anastasio Somoza Debayle gestürzt und begannen enge Verbindungen zu Kuba aufzubauen. Als Antwort organisierte, bewaffnete und förderte Reagan die antisandinistischen Contras.
Das Ergebnis? Ein Bürgerkrieg, der rund 35.000 Menschen in Nicaragua das Leben kostete. Das waren zwei Prozent der Bevölkerung; dieser Anteil entspräche in den USA sechs Millionen toten Amerikanern.

"Unverzeihliche Dummheit der Führer in den USA und in Europa"

Reagan und die Vereinigten Staaten haben damals falsch gehandelt, und Putin und Russland handeln heute falsch. Aber die Ähnlichkeit der beiden Geschichten erinnert uns an etwas, das wohlmeinende Moralisten gern vergessen: Großmächte sind immer empfindlich gegenüber politischen Bedingungen an ihren Grenzen. Und normalerweise sind sie bereit, mit harten Bandagen ihre vitalen Interessen zu schützen. Dass der Westen insgesamt es nicht vermocht hat, diese Binsenweisheit zu verstehen, ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Ukrainekrise ausgebrochen und so schwer zu lösen ist.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Was der Ukraine widerfährt, ist tragisch, und was Putin und Russland tun, ist verwerflich. Aber es war eine unverzeihliche Dummheit der Führer in den USA und in Europa, nicht vorausgesehen zu haben, dass Russland so reagieren würde, wie es reagiert hat. Sie hätten schließlich nur an die Politik Washingtons in großen Teilen der westlichen Hemisphäre zurückdenken müssen.

Moskau hat heute nicht weniger, sondern mehr Grund zur Sorge als die Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren. Nicaragua ist ein winziges Land mit weniger Einwohnern als New York City. Seine militärischen Fähigkeiten waren nicht der Rede wert, und sein potenzieller Wert als sowjetische Basis war unbedeutend. Und trotzdem sahen die Politiker in den USA dieses kleine, arme und schwache Land als ernste strategische Bedrohung an. Reagan warnte, die Sandinisten nicht zu stürzen hieße sich damit abzufinden, dass Terroristen in nur zwei Tagen mit dem Auto in Texas sein könnten.

Es geht nicht um Fakten, sondern die Wahrnehmung einer Bedrohung

Heute beharren Politiker in den USA und hartleibige Fachleute darauf, die Ausdehnung der Nato folge keiner feindlichen Absicht, und Kiew zu unterstützen stelle keinerlei Bedrohung für Russland dar. Aus dieser Perspektive macht Putin entweder sich selbst etwas vor oder er heuchelt, wenn er von einer ausländischen Gefährdung spricht. Oder er fürchtet sich in Wahrheit davor, dass die Ukraine aufblühen und seine eigene Regierung in Moskau schlecht aussehen lassen könnte.

Aber selbst wenn das alles stimmt: Es ist unerheblich, ob unsere Absichten nobel sind und ob die Ausdehnung der Nato und der Europäischen Union keine Bedrohung darstellt. Es zählt nur, ob Russlands Führer sie als Bedrohung wahrnehmen. Wenn Putin und Co eine Bedrohung sehen – und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie das nicht tun –, dann werden sie bereit sein, einen hohen Preis zu zahlen, um sie einzudämmen.

Noch nicht überzeugt? Dann denken Sie noch einmal an Ronald Reagan. Wenn der Präsident der mächtigen USA sich von der Chaotentruppe der Sandinisten derart bedroht fühlte, dass er bereit war, einen illegalen Bürgerkrieg gegen sie zu entfesseln – ist es dann nicht auch denkbar, dass Putin und viele andere Russen besorgt sind, das Nachbarland mit 45 Millionen Einwohnern könnte sich auf die andere Seite schlagen und damit die mächtigste Militärallianz der Welt direkt vor die eigene Haustür bringen?

Moralische Empörung taugt nicht als Politik

Nun können Sie einwenden: Wir sind doch die Guten in beiden Geschichten. Die Sandinisten waren Kommunisten, Gott bewahre, und steckten mit Fidel Castro und den anderen aus Moskaus „Imperium des Bösen“ unter einer Decke. Petro Poroschenko, Arsenij Jazenjuk und die anderen Reformer in Kiew dagegen sind freiheitsliebende und marktwirtschaftliche Demokraten – eifrig bemüht, die Korruption auszurotten, die die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit lähmt. Was wir in Nicaragua getan haben, war gut und notwendig, so wie unsere Politik gegenüber der Ukraine. Was Putin hingegen macht, ist unmenschlich und rücksichtslos.

Autor

Stephen M. Walt

ist Professor für Internationale Beziehungen an der Harvard University in Cambridge (USA).
Die Versuchung, den Konflikt moralisch zu deuten, ist verständlich. Aber moralische Empörung und glühende Selbstgerechtigkeit sind keine Politik. Sie ändern keine strategischen Gegebenheiten – abgesehen von der Frage, ob die Vereinigten Staaten nach Irak, Abu Ghraib, Libyen und so weiter wirklich noch als Moralapostel taugen. Angesichts der geografischen Gegebenheiten, der lokalen militärischen Kräfteverhältnisse, der Zerrissenheit der Ukraine und von Russlands Interessen müssen die Verfechter einer härteren Gangart erst noch eine politische Strategie vorlegen, die die Lage nicht noch schlimmer macht statt besser machen würde. Es mangelt dem Westen nicht an Entschlossenheit. Doch Fakt ist, dass eine Eskalation des Krieges in der Ukraine wahrscheinlich nicht zum Ziel führt.

Noch einmal: Russlands Politik ist verwerflich und Wladimir Putin ist keine missverstandene Figur, die unsere Sympathie verdient. Aber er verhält sich keinen Deut anders als verehrte Führer wie Ronald Reagan, die vitale Interessen bedroht sahen. Um eine dauerhafte Lösung für den Schlamassel in der Ukraine zu finden, wird weniger Moralisieren gebraucht und mehr strategisches Denken. Es hilft, wenn wir verstehen, dass Moskaus Verhalten nicht gar so ungewöhnlich ist.

Der Text ist zuerst im Februar auf Englisch bei Foreign Policy erschienen.

 

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erschienen in Ausgabe 4 / 2015: Unternehmen: Fair bringt mehr
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