Die Heimat existiert nur im Kopf

Die Dichterin und Autorin Easterine Kire Iralu stammt aus Nagaland, einem Bundesstaat im Nordosten Indiens. Sie floh 2005 vor dem langjährigen und blutigen Konflikt zwischen verschiedenen Ethnien und der indischen Regierung aus ihrer Heimat und lebt seitdem im Exil in Norwegen. Ihre kulturellen Wurzeln hat sie stets bewahrt – und sich trotzdem in einer neuen Kultur zurechtgefunden.

Ein alter Mann erklärte mir einmal: „Wo wir auch leben, zieht uns etwas in unserem Inneren immer dorthin zurück, wo wir geboren wurden, denn dort ist unsere Plazenta begraben.“ Mir kam dieser Gedanke gar nicht sehr befremdlich vor. Ich bin selbst weit weg von zu Hause und kenne die starke Sehnsucht nach der Heimat. Deshalb verstand ich gut, was er sagen wollte. Außerdem wird die Nachgeburt auch in meinem Volk in einer Ecke des eigenen Grundstücks vergraben. Diesen Brauch meinte der Mann; für ihn war klar, dass man in der Fremde Heimweh nach dem Land der Vorfahren empfindet, weil ein Teil von einem selbst dort begraben liegt.

Autorin

Easterline Kire Iralu

ist Dichterin und Autorin, stammt aus Nagaland in Nordindien und lebt seit 2005 in Norwegen im Exil.


Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte zwischen dieser Geschichte und dem, was ich jetzt erzählen möchte. Ich verließ das Land, aus dem ich stamme, als ich die gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen dort nicht mehr aushalten konnte. Angst, Erinnerungen, Alpträume und Gedichte waren meine anfänglichen Weggefährten auf der Reise in ein anderes Land. Nach und nach veränderten sie sich; manche zogen sich zurück, während andere in den Vordergrund traten. Weggehen, die Heimat verlassen – diese Worte haben etwas Endgültiges; für mich ist es wichtiger, unser Leben an jedem Ort der Erde als vorübergehend zu begreifen.

Das Verlassen der Heimat ist Fluch und Segen zugleich. Es tut weh, den Verlust der vertrauten Umgebung, der Freunde und Verwandten zu erleben, ebenso wie den Verlust der Muttersprache und damit der eigenen Kultur. Ich habe das alles verloren, und dazu noch meine Leserschaft. Der Segen des selbst gewählten Exils besteht in einem Zugewinn an Objektivität: Die räumliche Distanz von den politischen und sozialen Zusammenhängen der Heimat schenkte mir eine ganz neue Sicht auf die dortige Situation. Zum ersten Mal hörte ich auf, Partei zu ergreifen und lernte, die Probleme von zwei Seiten zu sehen. Für meine Arbeit als Schriftstellerin war das ein großer Gewinn.

Meine neue Heimat bot mir einen weiteren Vorteil: den Kontakt mit einem neuen literarischen und kulturellen Milieu. In den norwegischen Schulen wird auf künstlerische Betätigung sehr viel Wert gelegt. Für mich haben sich neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten erschlossen. Ich arbeite in verschiedenen Projekten mit Musikern und bildenden Künstlern, mit Fotografen und Tänzern zusammen. In der neuen Heimat veränderte sich mein Schreiben in zweierlei Hinsicht: Einerseits lockerte sich die Bindung an meine Ursprungskultur und ich legte alte Sehgewohnheiten ab, und andererseits fing ich an, das literarische Neuland zu erkunden, das sich mir anbot.       

Ist es möglich, in der Fremde eine neue Heimat zu finden? Das ist eine sehr allgemeine Frage, und man kann sie nur für den Einzelfall beantworten. Denn was ist eigentlich Heimat? Es ist eine Vorstellung, die wir seit unserer Kindheit in uns tragen. Doch in der Realität verändern sich die Orte, von denen wir herstammen. Ich kam nach mehreren Jahren nach Nagaland zurück und war enttäuscht, dass vieles nicht mehr so war, wie ich es in Erinnerung hatte. Die Städte und Dörfer sahen anders aus. Es gab mehr Autos auf den Straßen, und statt der alten Häuser, die zu meiner Vorstellung von Heimat gehörten, standen blitzblanke Neubauten da. Aber vor allem waren die Menschen anders als in meiner Erinnerung. Manche hatte das Alter milde gestimmt und andere waren weggestorben.

Ich glaube, so ergeht es vielen: Die Heimat ist eine Vorstellung, die wir mit uns herumtragen. Wie die Schnecken ihre Häuser auf dem Rücken, so tragen wir im Kopf Bilder unserer Heimat mit uns, die immer gleich bleiben und genau so aussehen, wie wir sie haben wollen; so bleiben unsere Kindheitserinnerungen unversehrt. Auf diese Weise kann man sich auch einen oder gar mehrere neue Heimatorte einrichten – nicht in erster Linie als reale Orte, sondern vielmehr als Räume, in die man sich bei Bedarf zurückziehen kann. So kann man zwei oder mehr Heimatländer haben, Räume, in denen man die Ruhe und Einkehr findet, die man für sein seelisches Gleichgewicht braucht.

Man bekommt viele hilfreiche Ratschläge darüber, wie man sich am besten in einer neuen Umgebung zurechtfindet, doch über die Fehler, die man machen kann, wird weniger gesprochen. Am hinderlichsten ist es meiner Meinung nach, Vergleiche anzustellen. Das beobachte ich bei vielen Migranten, wenn sie auf die alte Heimat zu sprechen kommen. Die Unterhaltung spielt sich auf zwei Ebenen ab. Zunächst reden die Neuzuwanderer in der Regel darüber, was ihnen in dem neuen Land alles gut gefällt – das politische System, die fehlende Korruption bei den Ämtern, die Qualität der staatlichen Dienstleistungen. Was sie dann sagen, ist bei vielen älteren Einwanderern durch ihr Heimweh bedingt: Nun finden sie, im Heimatland war alles besser, man ging dort warmherziger und liebevoller miteinander um, das Essen war schmackhafter, einfach alles war dort im Vergleich so viel besser, dass man sich fragt, warum sie überhaupt weggegangen sind. Das macht es sehr schwierig, sich in der neuen Umgebung einzuleben.

Man muss bereit sein, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, sich einer neuen Sprache und Kultur zu öffnen und beides in sich aufzunehmen. Vergleiche zu ziehen ist dabei nicht förderlich und erzeugt unrealistische Vorstellungen von der alten Heimat. Durch Vergleiche entstehen auch leicht Klischees, und durch das Denken in Klischees verschließt man sich die Möglichkeit, im neuen Land kreativ am Leben teilzunehmen. Wenn die Einwanderer sich aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres andersartigen geschichtlichen und kulturellen Hintergrunds selbst isolieren, wird es für sie viel schwieriger, die neue Kultur an sich heranzulassen.

Der Begriff Integration sagt mir nicht besonders zu. Man sollte stattdessen lieber Akzeptanz sagen. Sich in eine neue Gesellschaft zu integrieren, ist für erwachsene Einwanderer beinahe unmöglich. Ihre Erinnerungen an die alte Heimat sind zu stark. Was man in der Kindheit gelernt hat, sitzt zu fest, als dass man es ausreißen und durch etwas anderes ersetzen könnte. Auch das Erlernen einer neuen Sprache und das Kennenlernen der dazugehörigen Kultur führt nicht notwendigerweise zur Integration. Die von Einwanderern begangenen Straftaten zeigen, dass die Kollision verschiedener Kulturen im Extremfall große Frustration und schließlich sogar Gewaltausbrüche auslösen kann.

Doch ist es möglich, eine neue Kultur zu bejahen und sich in ihr zurechtzufinden, ohne die Ursprungskultur aufzugeben. Der Idealfall wäre dann eine „friedliche Koexistenz“ zweier Kulturen. Damit es dazu kommen kann, muss allerdings auch das Gastland zu den Neuankömmlingen „Ja“ sagen und sie als bereichernd für das eigene Lebens ansehen. Die jeweils andere Kultur zu akzeptieren tut beiden Seiten gut und kann schließlich dazu führen, dass beide Gruppen Sympathie und Loyalität füreinander empfinden.

Wer auswandert, erlebt eine existenzielle Erschütterung. Entwurzelt und verpflanzt zu werden, ist ein unglaublich gewaltsamer Eingriff. Mit einem Schlag verschwindet alles, was einem vertraut war, und an seine Stelle tritt das Neue und Unbekannte. Man wurde der Wurzeln beraubt und es ist nur natürlich, dass man sich wie besessen abmüht, irgendwo anders wieder Wurzeln zu schlagen – bei neuen Freunden, in der Arbeit oder beim Studium. Das eigentliche Problem ist aber nicht der Verlust der Wurzeln, sondern dass man die Kontrolle über das eigene Leben verloren hat.  In der neuen Heimat einen spirituellen Halt zu finden, ist eine große Hilfe. Es ist noch immer die Aufgabe der Kirchen, Neuankömmlinge willkommen zu heißen und ihnen zu zeigen, dass jemand sich um sie kümmert und sie als Person wahrnimmt. Das ist eine einzigartige Rolle, die die Kirchen wahrnehmen können. Ihre Seelsorge stärkt das Selbstwertgefühl der Migrantinnen und Migranten und ihre Bedeutung darf nicht unterschätzt werden.  

Ich denke voller Nostalgie an meine alte Heimat zurück, denn ich verfüge über eine Fülle schöner Erinnerungen an die frühen Jahre, die ich im Kreis meiner Familie und meiner Freunde verbringen durfte. Dagegen sind die Erinnerungen an die blutigen Konflikte der jüngeren Zeit glücklicherweise verblasst. Ich habe diese Erinnerungen und das kollektive Gedächtnis meines Volkes genutzt und einige Bücher über das Leben in meiner alten Heimat geschrieben. Darin habe ich historische Ereignisse und Elemente aus unserer Volksdichtung verarbeitet. Natürlich liegt mir daran, in meinen Erzählungen die kollektiven Erinnerungen an unsere Kultur und Geschichte aufzuzeichnen und die komplexen Lebenszusammenhänge der Naga in gedruckter Form festzuhalten, bevor es zu spät ist. Dafür bietet die Heimat, die ich in meinem Kopf mit mir trage, reichlich poetischen Stoff.

Aus dem Englischen von Anna Latz.

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erschienen in Ausgabe 8 / 2012: Auf der Flucht
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