Manchmal verlassen Worte den Ort, an dem sie einst zu Hause waren. Der Bergmann ganz vorne im Flöz war „vor Ort“. Dort war Teamarbeit gefragt und jeder brauchte Kumpel, ganz gleich, ob von nebenan, aus Polen, der Türkei oder Korea. Längst hat der Begriff „vor Ort“ die Tiefen der Stollen verlassen und taucht auf, wo Menschen zusammenarbeiten und etwas bewirken wollen.
Wer heute „vor Ort“ arbeitet, stellt sich lokalen Herausforderungen, die es zu lösen gilt. Das kann die Flüchtlingsunterkunft im Stadtteil sein, die Mitarbeit im Hospiz, der Eine-Welt-Laden, die Partnerschaft zu einem Projekt in einem Land des Südens oder der Erhalt einer Streuobstwiese. Wer sich so für ortsnahe Belange einsetzt, braucht Mut, wägt die Risiken ab, macht aber auch beglückende Erfahrungen von Solidarität und Gemeinschaft.
Lokales Engagement kann viel bewirken und erste Erfolge sichtbar machen. Enttäuschungen können aufgefangen werden und neue Wege lassen sich gemeinsam besser finden. Lokale Aktivitäten stehen aber auch in der Gefahr der Isolation. Sie sind sich selbst genug, schaffen sich ihre Geschichte und vergessen, sei es aus Gründen des Erfolgs oder Misserfolgs, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen. Doch was immer „vor Ort“ vorangebracht wird, entfaltet Wirkungen, die über den eigentlichen Anlass hinausgehen. Gemeinsam machen sie das zivilgesellschaftliche Engagement aus.
Vietnam, Soweto, Rio, Nicaragua, Kyoto
Erfahrungen, die sich verorten lassen, stärken die Erinnerung. Namen, die sich mit dem eigenen Lebensweg verbinden, verdichten die Erinnerungen und tragen die Erfahrungen weiter. In den Namen bündelt sich oft ein ganzer Kosmos von Geschichte, Erfahrungen, Hoffnungen, Scheitern, Programmen und Projekten – denken wir nur an Vietnam, Soweto, Rio, Nicaragua, Kyoto und viele andere mehr.
Im Wechsel vom Berufsleben zu einem neuen Lebensabschnitt tauchen bei mir Namen von Orten und Ländern auf, die sich in meine Lebensgeschichte eingeschrieben haben. Was sie für das Leben bedeuteten, erkenne ich oft erst im Rückblick. Meine Spurensuche bringt mich zu Orten, an denen ich tatsächlich gelebt und gearbeitet habe und zu anderen, die sich mit sozialen Bewegungen und politischen Ereignissen verbinden und mir wichtig waren, ohne dass ich selbst dort war.
Die Region um meinen Heimatort Hamm/Sieg war in den Nachkriegsjahren landwirtschaftlich und industriell von Bergbau und Eisenindustrie geprägt. Eine jüdische Gemeinde war dort zu Hause, bis in der Reichspogromnacht die Synagoge niedergebrannt wurde. Am Ortsrand liegt der jüdische Friedhof. In meiner Jugendzeit war er mit Büschen überwuchert. Als Jugendliche fingen wir an, die Grabsteine freizulegen. Die Kommunalgemeinde erkannte ihre Verantwortung, stellte die Grabsteine auf und errichtete auf dem Platz, auf dem einst die Synagoge stand, einen Ort der Erinnerung. Auf dem Friedhof begann für mich die Auseinandersetzung mit der Geschichte unseres Landes. Die Grabsteine waren wie Grundsteine, die bis heute halten gegen alle Formen des Antisemitismus und Rassismus.
Orte und Synonyme zugleich
In den letzten Jahren meiner Schulzeit und am Beginn des Studiums war ich mitgerissen von den großen Demonstrationen in Bonn gegen die Notstandsgesetze und gegen den Krieg der USA in Vietnam. Aufgewühlt erlebte ich die berühmte Rede Martin Luther Kings (I have a dream) und seiner Vision einer anderen Welt, die Armut, Krieg und Rassismus überwindet. Als seine Ermordung diese Hoffnung zu zerstören schien, keimte mit dem Prager Frühling 1968 die politische Vision eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz auf. Als die Panzer diesen Traum niederwalzten, hatte ich gerade mein Studium mit einem Vorsemester in Bethel begonnen.
Bethel war in ganz anderer Hinsicht ein prägender Ort. Gesunde und kranke Menschen leben dort zusammen. Damals konnten Studenten an Wochenenden mit der „blauen Schürze“ Dienst tun an den Kranken und Behinderten. Da entstand eine Nähe zu den Menschen am Ort. Zugleich ist Bethel darüber hinaus ein Synonym, an vielen Orten dafür einzutreten, Barrieren und Vorurteile zu überwinden, um in der Verschiedenheit ein gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen.
Diese und andere Orte mit ihren Geschichten zeigen meine persönliche Landkarte und bilden eine Art topografische Biografie. Dabei spielen die Orte, an denen es ein direktes Engagement gab, eine prägende Rolle. Aber viele Impulse kamen auch von außen.
Ein Beispiel dafür ist das Programm des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) zur Bekämpfung des Rassismus von 1969. Im Beschluss dazu hieß es unter anderem, die Kirchen seien aufgerufen, über Wohltätigkeit hinaus „menschenwürdige und gerechte Beziehungen der Menschen untereinander zu schaffen und einen radikalen Neuaufbau der Gesellschaft voranzutreiben“. Das war ein ganz neuer Ton, der die geläufige Entwicklungshilfe infrage stellte.
Was in Vancouver ausgerufen wurde wirkte lange
Auch wenn es ein weltweites Programm war, lag der Fokus darauf, die Apartheid im südlichen Afrika zu überwinden. Wer mit den Menschen in Soweto solidarisch sein wollte, musste sich an seinem Ort fragen, was zu tun sei, um das Leben in Südafrika gerechter werden zu lassen. Da wurden Konten bei Banken gekündigt und deutsche Firmen kritisch überprüft, die in Südafrika Niederlassungen hatten und als Stützen der Apartheid galten. Die Diskussion über den Sonderfonds des Programms, der Befreiungs-bewegungen für ihre humanitären Aufgaben zur Verfügung stand, polarisierte Befürworter und Gegner auf allen kirchlichen Ebenen. Was vor Ort von den Aktionsgruppen angestoßen wurde, war wie Hefe im Teig der Kirche und der Gesellschaft.
Eine Langzeitwirkung bis heute entfaltet der „Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, der 1983 auf der ÖRK-Vollversammlung in Vancouver ins Leben gerufen wurde. Als überwölbendes Thema hat dieser Prozess viele lokale Kampagnen initiiert und in international tätigen Organisationen die Bedeutung der Advocacy-Arbeit als integralen Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit begründet. Neue Begriffe und Kampagnen wie zur Klimagerechtigkeit haben ihn aktualisiert und ihm gegenwärtige Relevanz gegeben ebenso wie die friedensethischen Herausforderungen angesichts der kriegerischen und terroristischen Bedrohungen in vielen Ländern.
Auch die Basisgemeinden Lateinamerikas mit ihrer Option für die Armen gehören zu den Hoffnungsorten in den 70er und 80er Jahren. Hier nahmen Gemeinden und Gemeinschaften vor Ort die lokalen Probleme der Unterdrückung und Marginalisierung der Armen in den Blick und entwickelten Strategien zu ihrer Überwindung. Ihre Arbeit hat auch in den Industrienationen die Augen geöffnet, die versteckte Armut, die Ausgrenzung von Migranten und Flüchtlingen wahrzunehmen und durch eigenes Handeln zu überwinden.
Keine Orte mehr, nur noch Stationen
Manche Aktionen, die mit diesen Orten verbunden sind, sind Geschichte. Andere gewinnen neue Aktualität, wenn es darum geht, Armut zu bekämpfen, für Klimagerechtigkeit einzutreten, Menschenrechte durchzusetzen und eine Entwicklungszusammenarbeit zu planen, die Industrie- und Entwicklungsländer gleichermaßen verändert. Auch wenn heute viele Impulse aus internationalen Kampagnen und Netzwerken kommen, die orts- und länderübergreifend miteinander verbunden sind, so brauchen auch sie sichtbare Orte, an denen ihre Präsenz erkannt und ihre Botschaft gehört wird.
Zu solchen Orten zählen etwa die jährlichen Klimakonferenzen: Hier treffen sich Vertreter von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aus aller Welt, um sich auszutauschen und Entscheidungen voranzubringen. Auf den Klimakonferenzen verorten sich die globalen Bemühungen, auf die Auswirkungen des Klimawandels politisch, ökonomisch und sozial zu reagieren mit dem Ziel, mehr Klimagerechtigkeit zu erreichen.
Zugleich sind die Klimakonferenzen der vergangenen Jahre Orte des Minimalkonsenses und des Scheiterns. Das zeigt, dass sie oft nicht mehr sein können als Stationen. Nicht mehr der singuläre Ort wie einst Rio de Janeiro, wo 1992 die UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung stattfand, sind die Zeichen unserer Zeit, sondern eher die Serie von Orten, die zu Stationen werden. Das könnte man nostalgisch bedauern – aber solche Stationen sind wichtig, um zu überprüfen, ob Ziele erreicht wurden und sich neue zu setzen. Globale Probleme sind vielschichtiger geworden; sie lassen sich heute nicht mehr in dem Sinn verorten, dass an einer Stelle plausibel wird, wie eine Lösung aussehen könnte.
Autor
Jürgen Thiesbonenkamp
war bis 2014 Vorstandsvorsitzender der Kindernothilfe in Duisburg.Daher ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf die vielen, uns oft namentlich unbekannten Orte zu lenken, an denen Menschen den Kampf gegen Armut tagtäglich führen, wo sie sich für andere einsetzen, den Menschenrechten Raum geben und friedliche Solidarität leben. Was global noch aussteht, wird „vor Ort“ oft schon gelebt und verwirklicht. Die Topografie der Hoffnung lässt sich finden, oft verborgen im Namen eines Dorfes, einer Stadt, einer Region. In diesem Sinn ist Entwicklungszusammenarbeit auch heute nicht ort- und heimatlos. Ihre Aufgabe bleibt, Armut zu bekämpfen. Sie beherrscht das Leben noch an viel zu vielen Orten. Doch überall finden sich Menschen, die das nicht hinnehmen, sondern verändern.
Der Kampf gegen Hunger und für Frieden und Gerechtigkeit hat keinen Ort, an dem er ganz zu Hause ist, sondern lebt von der Utopie, dass noch aussteht, was es zu erreichen gilt. Sie wird manchmal real an Orten, die so zur Landkarte unserer Lebenswege werden und uns mit vielen Menschen verbinden, mit denen wir unterwegs sind.
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