Der Iran wirft seine Nachbarn raus

Millionen Afghanen sind mit Ausbruch des Krieges 1979 in die Nachbarländer Iran und Pakistan geflohen. Seit dem Sturz der Taliban übt die Regierung in Teheran verstärkt Druck auf sie aus, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Fremdenfeindlichkeit innerhalb der Bevölkerung wächst. Doch Rückkehrern nach Afghanistan gelingt es nur selten, dort wieder Fuß zu fassen – zu groß sind die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes.

Afghanische Flüchtlinge berichteten Ende Juni aus der zentraliranischen Stadt Yazd, dass sie von einem wütenden Mob von Iranern angegriffen worden seien. Laut Medienberichten waren junge Iraner in die Häuser der Afghanen eingedrungen und hatten sie mit Knüppeln und Stöcken attackiert. Ein afghanischer Fernsehsender zeigte Anfang Juli, dass dabei mehrere Häuser niedergebrannt  und Dutzende Personen verletzt wurden. Offenbar kam es zu den Übergriffen, nachdem in Koshtargah, einem von vielen afghanischen Familien bewohnten Stadtteil, die Leiche eines iranischen Mädchens gefunden worden war. Die Tat wurde den Afghanen zur Last gelegt, obwohl es nach Auskunft des afghanischen Außenministeriums darauf keine Hinweise gab.

Das ist nicht der erste Vorfall dieser Art und er zeigt, wie leicht Afghanen im Iran zur Zielscheibe von Angriffen aus der Bevölkerung werden können. Seit dem Beginn des Krieges in Afghanistan 1979 sind Millionen Menschen aus dem Land geflohen, die meisten in die Nachbarstaaten Pakistan und Iran. Während des Höhepunkts der Fluchtbewegung 1992 lebten im Iran annähernd drei Millionen Afghanen, heute sind es noch etwa zwei Millionen.


Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und die iranische Regierung unterscheiden zwischen zwei Kategorien: Die einen wurden im Rahmen verschiedener Programme des UNHCR und der iranischen Ausländerbehörde registriert. Es sind etwa eine Million Menschen und sie gelten als Flüchtlinge. Die anderen sind überwiegend einzelne Migranten, die nicht bei der Ausländerbehörde oder der UNO registriert sind, und deshalb als „Illegale“ keinen rechtlichen und sozialen Schutz genießen. Von ihnen gibt es schätzungsweise ebenfalls eine Million.

Autor

Niamatullah Ibrahimi

arbeitet als selbstständiger politischer Beobachter in Kabul. Von Januar bis Juli 2012 war er Gaststipendiat am Zentrum für Entwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin


In Wirklichkeit lässt sich nicht so eindeutig zwischen Flüchtlingen und Migranten unterscheiden. Viele von denen, die als Arbeitsmigranten gelten, sind möglicherweise Flüchtlinge, die nach internationalem Recht Anspruch auf den Flüchtlingsstatus hätten. Und manche Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahren nach Afghanistan heimgekehrt sind, kamen inzwischen als illegale Migranten in den Iran zurück.


Seit dem Sturz des afghanischen Taliban-Regimes 2001 setzte die iranische Regierung die Afghanen zunehmend unter Druck, auszureisen. Laut UNHCR verließen bis 2011 etwa 5,7 Millionen Afghanen Pakistan und den Iran, davon etwa 4,6 Millionen im Rahmen der freiwilligen UN-Rückführungsprogramme. Im Prinzip sollen die Menschen aus freien Stücken in ihre Heimat zurückkehren; koordiniert wird das von einer Kommission, an der das UNHCR, die afghanische und die iranische Regierung beteiligt sind.


Doch um mehr Afghanen zu einer schnellen Rückkehr zu bewegen, versucht das Regime in Teheran, ihnen das Leben im Iran möglichst schwer zu machen. Es übt Druck auf sie aus, indem ihnen der Anspruch auf Schulbesuch und medizinische Versorgung verwehrt wird. So wird es immer schwieriger für die afghanischen Flüchtlinge, in den Genuss öffentlicher Dienstleistungen zu kommen. Seit 2006 müssen sie Gebühren für ein ganzes Jahr bezahlen, wenn sie ihre Kinder in iranische Schulen schicken wollen. Die Kinder illegaler Migranten dürfen öffentliche Schulen gar nicht besuchen, und die von den Afghanen selbst organisierten freien Schulen wurden geschlossen.


Seit Jahren werden afghanische Staatsbürger ohne Papiere in großer Zahl aufs Geratewohl festgenommen und deportiert. Bei diesen breit angelegten Razzien werden auch häufig Misshandlungen beobachtet, bevor die Inhaftierten an einem der Grenzübergänge zwischen den beiden Ländern abgesetzt werden. In den vergangenen Monaten griff die iranische Regierung zu noch drastischeren Maßnahmen – und stieß damit auf heftige Kritik von Menschenrechtsorganisationen. Diese beanstandeten vor allem Einschränkungen bei Wohn- und Aufenthaltsorten. Laut einem Bericht der iranischen Menschenrechtsorganisation „Justice for Iran“ vom Juni dieses Jahres ist es afghanischen Staatsbürgern untersagt, sich in 14 der 31 iranischen Provinzen niederzulassen, die überwiegend an den Grenzen zu Afghanistan, Pakistan, Irak und der Türkei liegen.


Auch in den anderen Provinzen dürfen sie nicht überall wohnen und arbeiten. In der Provinz Yazd beispielsweise wurden die Städte Khatam und Bafgh für sie gesperrt. Manche Einschränkungen dienen speziell dem Ziel, die Afghanen immer stärker aus der iranischen Gesellschaft auszugrenzen. Im März 2012 erklärte Ahmad Reza Shafi’i, ein Polizeibeamter aus der Provinz Isfahan, dass die Afghanen am letzten Tag des persischen Neujahrsfests, der von der ganzen Bevölkerung im Freien gefeiert wird, den Saffeh Mountain Park nicht betreten dürfen, und zwar um „die Sicherheit und das Wohlbefinden der iranischen Familien sicherzustellen“. Einen Monat darauf gab Sayed Taqi Shafi’i, ein Beamter aus der am kaspischen Meer gelegenen Provinz Mazandaran, bekannt, dass diese Provinz keine Afghanen mehr aufnehmen könne, weil sie ein wichtiges Reiseziel für Touristen sei.


Laut iranischen Medienberichten von Anfang Juli haben Beamte der Ausländerbehörde Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte in der Südprovinz Fars angewiesen, keine Waren mehr an „unbefugte Ausländer“ zu verkaufen. Damit sind in der Regel Afghanen gemeint. Als Grund für das Verbot wurde die Befürchtung angegeben, sie könnten ansteckende Krankheiten verbreiten. In der neuen Richtlinie wurden ferner alle Iraner dazu angehalten, sich von Ausländern die Ausweise vorlegen zu lassen und diejenigen ohne gültige Papiere der Polizei zu melden.


Es lässt sich schwer überprüfen, wie sich die neuerlichen Einschränkungen auf die Bereitschaft der afghanischen Flüchtlinge auswirken, in ihre Heimat zurückzukehren. Doch die Sprache solcher Verlautbarungen spiegelt die Fremdenfeindlichkeit der Behörden und der Bevölkerung gegenüber Afghanen wider und verstärkt sie. Die Vorfälle in Yazd zeigen, dass die Afghanen häufig stigmatisiert und zu Sündenböcken gemacht werden, denen man die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme in die Schuhe schiebt.


In dieser Region Zentralasiens, in der viele Kulturen und Verkehrswege zusammentreffen, sind Mobilität und Migration über die Ländergrenzen hinweg schon immer selbstverständlich. Sie waren ein wesentliches Element im Leben der Menschen, bevor die Grenzen zwischen den beiden Ländern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgeschrieben wurden. Auch verlief die Bevölkerungsbewegung früher nicht nur in einer Richtung. Viele Menschen waren regelmäßig unterwegs, um Handel zu treiben, zu heiligen Orten zu pilgern oder auf beiden Seiten der heutigen Grenzen ihren Lebensunterhalt zu verdienen.


Kriege und Konflikte trugen ebenfalls zu massenhaften Umsiedlungen bei. Amir Abdur Rahman Khan unterwarf in den frühen 1890er Jahren das zentrale Hochland Afghanistans, und an den dort ansässigen Hazara – einer der wichtigsten Bevölkerungsgruppen des Landes – wurden Massaker verübt. Zehntausende von ihnen flohen über die Grenze nach Iran und ließen sich in der östlichen Provinz Khurasan nieder. In der jüngeren Vergangenheit gingen viele Afghanen in den Iran, als dort nach dem Öl-Boom der 1970er Jahre zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht wurden. Es gibt keine Zahlen darüber, wie viele Afghanen bereits im Iran arbeiteten, bevor der Ausbruch des Krieges 1979 eine Flüchtlingswelle auslöste. Doch auf jeden Fall waren es Zehntausende, die regelmäßig zwischen beiden Ländern hin- und herpendelten.


Da sich so viele Afghanen ständig im Iran und in Pakistan aufhalten, können beide Länder ihr geschwächtes Nachbarland stark unter Druck zu setzen. Von einem besonders krassen Fall wurde im Mai dieses Jahres berichtet: Abolfazl Zohrehvand, der neue iranische Botschafter in Kabul, drohte bei einem Treffen mit afghanischen Parlamentariern offen mit der Ausweisung einer großen Zahl afghanischer Flüchtlinge, falls sie das Strategische Partnerschaftsabkommen mit den USA  ratifizieren. Am 2. Mai war dieser Vertrag in Kabul von den Präsidenten Hamid Karsai und Barack Obama unterzeichnet worden, und am 26. Mai billigte ihn das afghanische Parlament fast einstimmig. Manche Beobachter erklären das damit, dass sich die afghanischen Abgeordneten durch die plumpen Drohungen der Iraner in ihrem Nationalstolz gekränkt fühlten.

Eine angedrohte oder tatsächliche massenhafte Ausweisung von Flüchtlingen und Migranten ist für die afghanische Regierung eine schwere Belastung. Bereits heute stellen die repatriierten Afghanen etwa ein Viertel der gesamten Bevölkerung – die knappen wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen des Landes werden stark beansprucht. Schon für viele Afghanen, die in den ersten Jahren nach dem Sturz der Taliban zurückkehrten, war es sehr schwierig, sich im eigenen Land wieder zu integrieren und wirtschaftlich Fuß zu fassen. In den Gastländern lebten sie überwiegend in den Städten, und so ließen sie sich nach ihrer Heimkehr ebenfalls in den Städten nieder. Dort sind Arbeitsplätze knapp und hart umkämpft, und auch die Unterbringung der vielen Zuzügler ist ein großes Problem. In Kabul etwa, das 2001 weniger als eine Million Einwohner hatte, leben heute schätzungsweise etwa fünf Millionen Menschen.


Fast die Hälfte derjenigen, die in den letzten Jahren heimgekehrt sind, sind manchen Berichten zufolge nicht wieder in ihren Heimatorten untergekommen. So sind am Rande der großen Städte wie Kabul ausgedehnte Elendsviertel entstanden, und viele repatriierte Afghanen haben sich dafür entschieden, wieder in den Iran oder andere Länder zurückzugehen. Obwohl Afghanistan seit mehr als einem Jahrzehnt vom Ausland unterstützt wird, kommt es weiterhin nicht ohne die politische und militärische Hilfe des Westens aus. Da es außer der ausländischen Finanzhilfe und der Drogenproduktion kaum über Einnahmequellen verfügt, werden in absehbarer Zukunft noch viele Afghanen das Land verlassen – vermutlich auch in Richtung Iran, unabhängig davon, wie es mit der dortigen Innenpolitik und den Beziehungen zwischen den beiden Ländern weitergeht.

Aus dem Englischen von Anna Latz.

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erschienen in Ausgabe 8 / 2012: Auf der Flucht
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