Asien gilt als die große Erfolgsgeschichte in der Armutsbekämpfung. Belegt wird das meist mit Berechnungen der Weltbank, wonach der Anteil der extrem Armen an der Bevölkerung der asiatischen Entwicklungsländer in 20 Jahren um mehr als die Hälfte gesunken ist: von 55 Prozent 1990 auf 21 Prozent 2010. Besonders schnell war der Fortschritt in China und Südostasien. Nur wegen des Erfolgs in Asien konnte laut den Vereinten Nationen die globale Rate der extremen Armut seit 1990 bereits halbiert werden.
Die ADB erklärt nun, die Weltbank unterschätze die absolute Armut in Asien aus drei Gründen. Erstens sei ihre Armutsgrenze für Asien (ohne die Industrieländer Japan und Südkorea) zu niedrig. Nach der ist extrem arm, wer umgerechnet weniger als 1,25 US-Dollar pro Kopf und Tag zur Verfügung hat. In Asien reicht die Summe laut ADB nicht mehr für das Lebensnotwendige – unter anderem weil sich mit dem Wirtschaftswachstum auch der Warenkorb verändert hat. Ein Mobiltelefon etwa gelte heute als notwendig. Mehrere asiatische Länder haben denn auch jüngst ihre nationalen Armutsgrenzen hochgesetzt.
Die ADB kalkuliert daher, weitgehend nach Verfahren der Weltbank, für Asien eine Armutsgrenze von 1,51 US-Dollar pro Kopf und Tag. Das erhöht – Stand 2010 – die Zahl der armen Asiaten von 733 Millionen auf mehr als eine Milliarde. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist danach nicht 20,7, sondern 30,5 Prozent.
Der Schutz gegen Naturkatastrophen kostet Geld
Zweitens müssen laut ADB zusätzlich der Anstieg der weltweiten Nahrungspreise seit 2000 sowie deren Schwankungen eingerechnet werden. Arme brauchen unter diesen Umständen zusätzlich Geld, um ihre Ernährung abzusichern. Passt man die Armutsgrenzen daran an, dann steigt die Armutsquote in Asien um 4 Prozent.
Drittens will die ADB die Anfälligkeit für Naturkatastrophen, Krankheit und Wirtschaftskrisen berücksichtigen. Sich dagegen zu schützen erfordert ebenfalls Geld. Die ADB setzt daher die Armutsgrenze noch einmal höher. Als Folge fallen 418 Millionen Menschen zusätzlich unter die Grenze, die Quote steigt um 12 Prozent.
Die aus allen drei Faktoren ermittelten „kombinierten Armutsgrenzen“ liegen für die verschiedenen Teile Asiens zwischen 2,10 US-Dollar (Zentral- und Westasien) und 2,80 Dollar (Ostasien) pro Kopf und Tag. Setzt man diese Grenzen an und nicht die der Weltbank, dann leben über eine Milliarde Asiaten mehr in extremer Armut – praktisch jede und jeder zweite.
Das klingt dramatisch. Aber sind diese Zahlen verlässlicher als die der Weltbank? Teilweise. Für globale Armutsstatistiken sind immer viele mehr oder weniger fragwürdige Annahmen nötig, zum Beispiel bei der Umrechnung der lokalen Währungen in Dollar. Die Rohdaten sind oft lückenhaft. Zudem wird Armut nur am Geldeinkommen gemessen und damit unterschätzt. Nur einen kleinen Teil dieser Probleme löst die ADB – sie folgt ja großenteils dem Verfahren der Weltbank.
Sie berücksichtigt aber, dass die Armutsgrenze mit der Entwicklung und der Verstädterung in Asien steigt, weil etwa die Lebenshaltungskosten in Städten höher sind. Das und der Blick auf nur eine Region machen ihre Zahlen plausibler als die der Weltbank.
Ist demnach der starke Rückgang der weltweiten Armut nur ein Rechenfehler? Genau so deutet Jean-Pierre Lehmann, ein emeritierter Professor der Wirtschaftsschule IMD in Lausanne, den ADB-Bericht. Doch das ist ein Kurzschluss: Man kann die Zahlen der ADB nicht einfach mit denen der Weltbank für frühere Jahre vergleichen. Die ADB verändert ja die Armutsgrenze, also den Maßstab.
Dabei berücksichtigt sie zwar einige Lasten für Arme, die erst im Laufe von Entwicklung und Verstädterung entstehen – zum Beispiel wenn früher Kostenloses wie Brennholz nun bezahlt werden muss oder die Nahrungspreise steigen. Passt man die Armutsgrenze nur daran an, dann bleiben die Armutszahlen vergleichbar.Aber die ADB rechnet auch Kosten ein, die Arme schon immer belastet haben, zum Beispiel bei Krankheit und Naturkatastrophen. Ob diese Kosten früher niedriger waren, ist fraglich.
Neu über angebliche Segnungen der Globalisierung nachdenken
Da die Weltbank sie außen vor lässt, sind die zwei Datensätze unvergleichbar. Und schon kleine Änderungen der Armutsgrenze bewirken bei diesen Rechnungen große Abweichungen in den Armutszahlen. Hinzu kommt, dass die ADB den Anstieg der kulturellen Standards einbezieht: Wem lediglich ein Handy fehlt, der gilt als arm, auch wenn er sonst besser lebt als ein Armer vor 20 Jahren. Auch deshalb verbieten sich direkte Vergleiche.
Die ADB selbst zweifelt gar nicht am starken Rückgang der Armut in Asien. Sie folgert nur, das Ausmaß der Armut sei 2010 – und auch früher – höher gewesen als von der Weltbank berechnet.
Zu Recht mahnt Lehmann allerdings, man müsse im Lichte des ADB-Berichts neu über angebliche Segnungen der Globalisierung nachdenken. Wenn die Entwicklung Asiens wie bisher weitergeht, prognostiziert die ADB für 2030 immer noch 17 Prozent extrem Arme dort. Die globale Ausrottung der Armut, die die neuen Nachhaltigkeitsziele anvisieren sollen, wäre dann außer Reichweite.
Wirtschaftswachstum allein wird das laut ADB nicht ändern. Sie mahnt zusätzliche politische Schritte an: Die Regierungen sollten auch eine Sozialsicherung für Arme aufbauen, das Angebot an und den Zugang zu Nahrung sichern sowie die Katastrophenvorsorge verbessern. Zwei politisch heiklere Ratschläge ließen sich aus dem Bericht ebenfalls ableiten: Die Staaten, auch in Asien, sollten zum Nutzen der Armen die soziale Ungleichheit verringern und den globalen Klimaschutz vorantreiben.
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