Indien: Die Milch der kleinen Leute

Millionen Inder leben von der Milchwirtschaft und versorgen ihre Landsleute täglich mit der wichtigen Eiweißquelle. Doch das geplante Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union gefährdet die heimischen Kleinproduzenten.

Es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: „Wir versorgen die Kuh, und die Kuh versorgt uns“, sagt Marayal, eine Bäuerin aus Thalavady im indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Ihre beiden Kühe geben täglich sechs bis zehn Liter Milch, die sie für 30 bis 40 Cent pro Liter verkauft.

In ganz Indien halten 70 Millionen Kleinbauern wie Marayal in ihrem Hinterhof Milchvieh. Auch wenn jeder nur ein oder zwei Tiere besitzt, beliefern sie Millionen Familien und Hunderttausende kleiner Verkaufsstände im ganzen Land, die Milch oder Tee ausschenken. Diese Kleinbetriebe ohne Lizenz kaufen ihre Milch am liebsten direkt beim Erzeuger, der sie zu sehr geringen Preisen anbietet.

Erzeugt wird vor allem Büffelmilch. Mehr als die Hälfte der Produktion dient dazu, die Menschen im ländlichen Umfeld zu versorgen. Ein Viertel wird vor Ort weiterverarbeitet zu Joghurt, Ghee (einer Art Butterschmalz, das zum Kochen verwendet wird) und anderen Milchprodukten.

Die indische Milchwirtschaft beschäftigt rund 90 Millionen Menschen, darunter 75 Millionen Frauen. Noch immer ist sie der wichtigste Agrarzweig und trägt 22 Prozent zum landwirtschaftlichen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Mit mehr als 15 Prozent Anteil an der weltweiten Produktion ist Indien größter Milcherzeuger der Welt. Milch ist vom Speiseplan nicht wegzudenken: Fast die gesamte Jahresproduktion von 108 Millionen Tonnen konsumieren die Inder selbst.

Die Kleinbauern, die 85 Prozent zur nationalen Milchproduktion beisteuern, und ihre Abnehmer im Inland tragen die „weiße Revolution“, die von 1980 bis 2006 die Milchproduktion verdreifacht hat. So profitieren viele Menschen von dem Boom. Das National Dairy Development Board hatte sich in den 1980er und frühen 1990er Jahren zum Ziel gesetzt, die Milchproduktion und den inländischen Verbrauch zu steigern. Mit der „Operation Flood“ sollten die Ernährung verbessert und die Armut bekämpft werden, indem man den Milcherzeugern in den Dörfern besseren Zugang zu städtischen Märkten bot. Das Programm sicherte Bauern und sogar Landarbeitern ohne eigenen Grundbesitz ein regelmäßiges Einkommen.

Indiens Milchwirtschaft gerät unter Druck

Doch Indiens Milchwirtschaft gerät zunehmend unter Druck. Ende 2012 lockerte die Regierung die Regelungen für ausländische Direktinvestitionen im Lebensmittelhandel. Ferner verhandelt sie mit der Europäischen Union (EU) über ein Freihandelsabkommen. Und das ist überwiegend an den Interessen großer Konzerne ausgerichtet.

Während die westlichen Volkswirtschaften kriseln, glauben sie, in Indien reiche Beute machen zu können. Der europäische Milchhandelsverband EUCOLAIT rief die EU-Unterhändler im Dezember 2011 zu einer unnachgiebigen Haltung auf, damit die EU-Mitglieder denselben Zugang zum indischen Milchmarkt bekommen wie andere Länder.

Dagegen formiert sich in Indien immer mehr Widerstand. Die Regierung wird aufgefordert, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um die Interessen der kleinen Milcherzeuger im Land zu wahren. Die Abgeordneten im Agrarausschuss des indischen Parlaments erklärten im April 2013, die Milchbauern müssten vor Monopolen sowie vor diskriminierenden und handelsverzerrenden Praktiken geschützt werden. Bauernverbände machen sich dafür stark, das Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU ganz zu stoppen. Es würde die indische Wirtschaft weiter öffnen und den Agrarsektor zerstören.###Seite2###

Ausländische Unternehmen haben in jüngster Zeit verstärkt in die indische Milchwirtschaft investiert. Seit Ende 2012 dürfen sie sich an Supermärkten und Einzelhandelsgeschäften beteiligen. Laut Kevin Bellamy von der Rabobank, dem weltweit größten Kreditgeber der Agrarindustrie, ist das ein erster Schritt zur Einfuhr ausländischer Milchprodukte auf den indischen Markt. Gegen die Lockerungen für Investitionen im Einzelhandel gab es zahlreiche Proteste. Deshalb überließ die indische Zentralregierung es den Regierungen der Bundesstaaten, die Regelungen zu übernehmen oder nicht.

Zehn von ihnen haben ihr Einverständnis erklärt, sieben sind dagegen. Die übrigen elf müssen sich noch entscheiden. In ihrer Haltung spiegelt sich auch die Stärke der Milchgenossenschaften in diesen Bundesstaaten. In Indien gibt es etwa 96.000 solche Genossenschaften, die auf Ebene der Gemeinden, der Bezirke und der Bundesstaaten organisiert sind. In manchen Staaten wie Karnataka engagiert sich die Regierung stark für die Genossenschaften, weil sie ihr eine wichtige Einkommensquelle sichern.

Die Karnataka Milk Federation (KMF) ist der größte Zusammenschluss von Milchgenossenschaften in Südindien: Mehr als 2,23 Millionen Erzeuger aus mehr als 12.000 Genossenschaften auf Dorfebene sind darin organisiert, die wiederum 13 Verbände auf Bezirksebene gegründet haben. Im Bezirk Chamrajanagar etwa gehen täglich 85.000 bis 90.000 Liter Milch aus den 225 Genossenschaften ein. Zweimal täglich wird die Milch aus 60 zentralen Sammelstellen abgeholt, die im Durchschnitt von fünf Dörfern beliefert werden. Sie wird in die Kühlzentren in der Stadt Chamrajanagar gebracht; für den ganzen Bezirk stehen dort drei riesige Kühltanks mit einem Fassungsvermögen von jeweils 30.000 Litern.

Bauern, die ihre Milch an die Genossenschaft verkaufen, erhalten zwischen sieben und 21 Rupien pro Liter (11 bis 34 Cent). Der Preis richtet sich nach dem Gehalt an fettfreier Trockenmasse (SNF), der an jeder Sammelstelle mithilfe von Laktometern gemessen wird. Der durchschnittliche SNF-Gehalt der an die Genossenschaften gelieferten Milch liegt bei 8,4 Prozent. Die Milch wird dann unter dem Markennamen „Nandini“ in Gebinden von einem Liter bis zu 2,5 Litern verpackt. Der Milchverband in Karnataka verkauft sie für 32 Rupien pro Liter (50 Cent) an die Verbraucher.

Karnataka erzeugt im Jahr insgesamt fünf Millionen Liter Milch – konsumiert werden aber nur drei Millionen Liter. Den Überschuss verarbeitet die Firma SKA Dairy Foods für die Genossenschaft zu Milchpulver (Mager- und Vollmilchpulver). Die Genossenschaft zahlt dafür an SKA 0,025 Rupien pro Kilogramm Milchpulver. In ihrem Lager kann sie insgesamt 85.000 Kilogramm Milchpulver aufbewahren. Der Verkaufspreis von Milchpulver ist zehnmal höher als der von Frischmilch, deshalb ist es neben Ghee ein wichtiges Erzeugnis für die Genossenschaft.

Einen Teil des Milchpulvers verteilt die Regierung von Karnataka in Programmen zur Schulspeisung: Schüler der Klassen eins bis sechs erhalten Magermilchpulver und die älteren Schüler (Klasse sieben bis zehn) Vollmilchpulver. Die restlichen Überschüsse werden an andere Bundesstaaten verkauft. Für Karnataka ist das eine wichtige Finanzquelle.###Seite3###

Der Gewerkschaftsverband KMF kann den Milchbauern im gesamten Bundesstaat ein zuverlässiges Einkommen sichern. Dennoch ist das System nicht perfekt. So werden die Bauern oft zu spät bezahlt. Sie sollen eigentlich jede Woche ihr Geld bekommen, aber ein Bauer aus der Nähe des Dorfes Rajarajeswar Nagar erzählt, dass die Zahlungen mitunter mehr als einen Monat auf sich warten lassen. Ein heikles Thema ist zudem der Mangel an Transparenz in Finanzfragen zwischen den verschiedenen Ebenen der Genossenschaften und den Mitgliedern. Nur jeweils ein Vertreter der unteren Stufe ist an den Verhandlungen und Entscheidungen der nächsthöheren Stufe beteiligt.

Freie Bahn für Mega-Milchbetriebe

Ausländische Unternehmen tummeln sich bereits eifrig auf dem indischen Milchmarkt. 2011 erwarb die Carlyle-Gruppe, eine der größten US-amerikanischen Investmentfirmen, eine 20- ...

Die Stärke der Genossenschaften in Karnataka und andernorts liegt darin, dass sie die Milch direkt bei den Bauern abholen und vermarkten. Große Molkereibetriebe sind daran wenig interessiert. Sie wollen stattdessen Milchpulver aus Europa oder Neuseeland einführen, um die Nachfrage zu decken.

Das funktionierende Netzwerk von Kleinerzeugern und Milchgenossenschaften, aus dem der Milchsektor in Indien größtenteils besteht, ist durch Freihandelsabkommen und eine liberalere Investitionspolitik bedroht. Werden die Grenzen für den Import von subventioniertem Milchpulver und anderen Milchprodukten aus der EU geöffnet, können Verarbeiter und Einzelhändler die lokalen Preise drücken. Das kann die Bauern am Ende dazu zwingen, Preise unterhalb der Produktionskosten zu akzeptieren.

Kleinbauern, Genossenschaften und Gewerkschaften standen deshalb im vergangenen Jahr bei den Protesten gegen das Freihandelsabkommen an vorderster Front. Aus ihrer Sicht gibt es keine Alternative zu hohen Zöllen. Die Zölle bedeuten nicht höhere Verbraucherpreise, sondern schützen gegen Preisdumping. Sie verhindern, dass große Molkereien anstelle von Frischmilch günstigere verarbeitete Milch oder sogar Ersatzprodukte verwenden. Die Genossenschaft Amul aus Gujarat etwa hat mit Hilfe von Briefen an den indischen Handelsminister zu verhindern versucht, dass Importzölle auf Milchprodukte gesenkt werden.

Investoren und größere Molkereikonzerne sind schon jetzt bemüht, die Märkte in Indien und anderen Ländern im globalen Süden neu aufzurollen (siehe Kasten links). Das Unternehmen Cargill hat nicht nur ein Auge auf Indien geworfen, sondern investiert Hunderte Millionen US-Dollar in riesige Molkereien in China. Der Milchkonzern Fonterra mit Sitz in Neuseeland hat in China und Brasilien einen aggressiven Wachstumskurs eingeschlagen. Wenn sie sich durchsetzen, könnte das Millionen Menschen in den Ruin treiben.

Doch Erfahrungen zeigen, dass sich die Milch der kleinen Leute selbst angesichts so mächtiger Bündnisse behaupten kann. In Kolumbien haben sich Kleinerzeuger, Verkäufer und Verbraucher zusammengeschlossen und die Regierung gezwungen, die „Volksmilch“ (leche popular) gesetzlich als lebenswichtig anzuerkennen. Sie hatten drei gute Argumente auf ihrer Seite: Die Volksmilch deckt derzeit den Großteil des täglichen Bedarfs, und Großmolkereien allein können das nicht leisten. Millionen Menschen verdienen mit der Milch ihren Lebensunterhalt – große Molkereien bieten dazu keine Alternative. Und schließlich versorgt die „Volksmilch“ Millionen Haushalte mit einem sicheren, frischen und nahrhaften Lebensmittel – zu erschwinglichen Preisen.

Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.

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