Indien: Essen per Gesetz

Die Wirtschaft wächst, doch die Zahl der Hungernden sinkt nicht. Der Staat steuert gegen: Arme Inder haben jetzt einen gesetzlich verbrieften Anspruch auf billigen Reis. Könne sie damit ihre Teller und Mägen füllen?

Es sorgt national und international für kontroverse Debatten: Das indische Gesetz zur Ernährungssicherung (National Food Security Act, NFSA), das im September 2013 vom Parlament beschlossen worden ist. Die einen sehen es als spektakulären Erfolg im Kampf um das Recht auf Nahrung. Die anderen finden, es sei eine populistische Vergeudung öffentlicher Mittel, die sich das Land in seiner gegenwärtigen Haushaltslage nicht leisten kann.

Laut dem NFSA haben zwei Drittel der indischen Bevölkerung – 820 Millionen Menschen – einen Rechtsanspruch auf subventioniertes Getreide (auf dem Land drei Viertel, in der Stadt die Hälfte). Im Rahmen des staatlichen Verteilsystems PDS (Public Distribution System) erhielten bislang 37 Prozent der Bevölkerung eine solche Unterstützung. Die Ärmsten können – wie schon unter dem PDS – 35 Kilo Reis, Weizen oder Hirse monatlich pro Familie für etwas mehr als einen US-Dollar einkaufen.

Autor

Biraj Patnaik

ist der Chefberater für die Bevollmächtigten des Obersten Gerichtshofs im Verfahren um das Recht auf Nahrung. Er engagiert sich seit deren Beginn in der Kampagne für ein Recht auf Nahrung.

Alle anderen Anspruchsberechtigten bekommen pro Person zum selben Preis fünf Kilo Getreide im Monat, unter dem PDS waren es sieben Kilo. Wie viel Getreide eine Familie insgesamt verbilligt erhält, hängt von der Zahl ihrer Mitglieder ab. Laut NFSA sind Frauen die Familienoberhäupter. Die Berechtigungsscheine werden an die älteste Frau in der Familie ausgegeben, sofern sie mindestens 18 Jahre alt ist. In einigen Bundesstaaten kann man durch das staatliche Verteilungssystem PDS zusätzlich verbilligte Hülsenfrüchte, Öl, Salz und andere Lebensmittel beziehen. Für die Kosten müssen die Regierungen der Bundesstaaten aufkommen. In manchen profitieren mehr Menschen vom staatlichen Verteilsystem, als laut dem neuen Gesetz anspruchsberechtigt wären – in Tamil Nadu die komplette Bevölkerung, in Chhattisgarh 90 Prozent. Die Regionalregierungen wollen daran auch künftig festhalten.

Das neue Gesetz verspricht zusätzlich zu dem Getreide allen Kindern bis zu 14 Jahren, die öffentliche oder staatlich geförderte Schulen besuchen, an allen Werktagen des Jahres eine kostenlose warme Mittagsmahlzeit. Davon sollen etwa 150 Millionen Kinder profitieren. Außerdem wird allen Kindern zwischen drei und sechs Jahren eine kostenlose warme Mahlzeit zugesichert. Für Kinder zwischen sechs Monaten bis zu drei Jahren werden Rationen ausgegeben, die ihrem Alter entsprechen.

Wichtige Unterstützung für junge Mütter

Alle schwangeren Frauen und stillenden Mütter bekommen ebenfalls eine warme Mahlzeit. Außerdem sind zusätzliche Mahlzeiten oder Rationen für akut unterernährte Kinder vorgesehen. Für diese Mahlzeiten soll die staatliche Kinderschutzorganisation ICDS (Integrated Child Development Services) sorgen, die auch Vorschulerziehung, Impfung und Überweisungen in ärztliche Behandlung anbietet. In Indien gibt es fast 1,5 Millionen ICDS-Zweigstellen, die für 160 Millionen Kinder unter sechs Jahren zuständig sind.

Außerdem sind zusätzliche Leistungen für alle schwangeren und stillenden Inderinnen vorgesehen. Die Debatte über das neue Gesetz konzentrierte sich zwar vor allem auf das System der Lebensmittelverteilung. Doch angesichts der weit verbreiteten Diskriminierung der indischen Frauen ist die zusätzliche Unterstützung für junge Mütter der wichtigste Schritt nach vorn. Sie haben jetzt Anspruch auf knapp 100 US-Dollar, die über sechs Monate ausbezahlt werden. Zusätzlich erhalten sie weiter die finanziellen Hilfen, die ihnen bei Entbindungen im Krankenhaus schon bisher zustanden.

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Auch wenn man der – zu Unrecht Bismarck zugeschriebenen – Aussage zustimmt, es sei nicht gut, genau zu wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, lohnt doch ein Blick auf die wesentlichen Beweggründe für die Verabschiedung dieses neuen Gesetzes. Erstens war es moralisch geboten, etwas gegen den Hunger zu unternehmen. Denn Indien steht zwar unter den Ländern mit dem schnellsten Wirtschaftswachstum an zweiter Stelle hinter China, weist aber mit 42 Prozent einen besonders hohen Prozentsatz an unterernährten Kindern auf. Auch auf dem Welthunger-Index, den das Internationale Forschungsinstitut für Ernährungs- und Entwicklungspolitik jährlich ermittelt, rangiert es stets ganz unten.

Zweitens hat sich die indische Justiz immer stärker im Kampf gegen den Hunger engagiert. 2001 wurde beim Obersten Gerichtshof eine Verbandsklage auf das Recht auf Nahrung eingereicht. Seitdem hat er in dieser Sache mehr als hundert einstweilige Verfügungen erlassen. Das Parlament musste ein entsprechendes Gesetz beschließen, um die Frage des Rechts auf Nahrung wieder in die Zuständigkeit der Politik zu holen. Die Kampagne für das Recht auf Nahrung hat zudem große Aufmerksamkeit für das Verfahren vor dem Obersten Gericht geweckt. Sie hat dafür gesorgt, Hunger und Mangelernährung in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion zu rücken.

Drittens konnten sich die regierenden Parteien bei Parlaments- und Regionalwahlen 2008 und 2009 hauptsächlich dort an der Macht halten, wo im Rahmen der bestehenden staatlichen Verteilung von subventionierten Lebensmitteln (Public Distribution System, PDS) die Quoten erhöht und die Preise gesenkt wurden. Kurz: Eine Ausweitung der Lebensmittelverteilung bringt Stimmen.

Und viertens steht das NFSA in einer Reihe neuer Gesetze, die an den Verfassungsauftrag anknüpfen und die Grundrechte stärken. Diese Gesetze wurden in den vergangen neun Jahren unter der Regierung der United Progressive Alliance verabschiedet und bilden die Grundlage der indischen Sozialpolitik. Sie regeln unter anderem das Recht auf Information und auf Bildung, die Landrechte der indigenen Bevölkerung in Waldgebieten, ein Recht auf ein bestimmtes Maß an Lohnarbeit pro Jahr auf dem Land und den Schutz vor häuslicher Gewalt. Das Gesetz zur Ernährungssicherheit hält ausdrücklich fest, dass Artikel 21 der indischen Verfassung, der das Recht auf Leben und Freiheit garantiert, auch das Recht auf Nahrung beinhaltet. Darauf haben auch die indischen Gerichte in ihren Urteilen immer wieder Bezug genommen.

Konservative Wirtschaftsexperten lehnen das neue Gesetz NFSA ab, weil sie es für nicht finanzierbar halten. Sie gehen davon aus, dass die Umsetzung 20 bis 30 Milliarden US-Dollar pro Jahr kostet. Die Regierung erklärt hingegen, die zusätzliche finanzielle Belastung werde weniger als fünf Milliarden US-Dollar betragen. In den vergangenen 20 Jahren kosteten subventionierte Nahrungsmittel die Regierung etwa ein Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Wenn das Gesetz zur Ernährungssicherheit komplett umgesetzt ist, werden diese Kosten voraussichtlich auf 1,3 Prozent steigen. Indien gehört zu den Ländern, die, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, weltweit am wenigsten Geld für Sozialprogramme ausgeben.

Keine Entlastung für die Bauern

Die Aktivisten der Kampagne für das Recht auf Nahrung sind aus vielerlei anderen Gründen mit dem neuen Gesetz unzufrieden. Vor allem kritisieren sie, dass es im besten Falle spezifische Anspruchsrechte auf Nahrung anerkennt, nicht jedoch das Grundrecht auf angemessene Ernährung. Und sie bemängeln, dass ein Gesetz zur Bekämpfung des Hungers, das die Agrarproduktion nicht berücksichtigt, keinerlei Entlastung für die Bauern bringt. Das sei in einem Land, in dem seit 1996 mehr als eine Viertelmillion Bauern Selbstmord begangen haben, nicht akzeptabel.

Aus Sicht der Bauern sind für die Ernährungssicherheit Faktoren entscheidend wie öffentliche Investitionen im Agrarsektor und Mindestpreise für ihre Produkte. Sie sind aber nicht als einklagbare Rechte festgeschrieben, sondern werden der Entscheidung der Behörden überlassen. Die indische Regierung garantiert allen Bauern, die ihre Produkte direkt nach der Ernte verkaufen, einen Mindestpreis, aber er ist im NFSA nicht in einen Rechtsanspruch verwandelt worden. Damit wurde eine gute Gelegenheit vertan, gegen die seit zwanzig Jahren anhaltende Krise in der Landwirtschaft vorzugehen. 80 Prozent der indischen Bauern haben Klein- oder Nebenerwerbsbetriebe mit weniger als zwei Hektar Land. Fast alle müssen mehr Lebensmittel kaufen, als sie produzieren – und werden deshalb ebenfalls vom NFSA profitieren. Die Belange der Bauern hätten bei der Gestaltung des neuen Gesetzes eine wichtige Rolle spielen müssen. 

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Organisationen, die sich mit dem Recht der Kinder auf Nahrung beschäftigen, kritisieren ferner, dass das Gesetz nur die Verfügbarkeit von Lebensmitteln regelt und die gesunde Ernährung außer Acht lässt. Soziale Faktoren, die der Unterernährung vorbeugen – wie sauberes Trinkwasser, bessere sanitäre Anlagen, eine angemessene medizinische Betreuung während der Schuljahre und die Behandlung von Kindern mit akuten Mangelerscheinungen –, wurden nicht berücksichtigt. Außerdem bemängeln die Kritiker, in der Endfassung des Gesetzes sei vieles gestrichen worden, was im Entwurf sowie in vorherigen Fassungen enthalten war: städtische Gemeinschaftsküchen für Bedürftige, ein Versorgungskonzept für Regionen, in denen chronisch Hunger herrscht, und Gratismahlzeiten für die Ärmsten.

Schließlich müssen Einklagbarkeit, Rechenschaftspflicht und Transparenz im Zentrum jeder Gesetzgebung stehen, die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Rechte sichern soll. Die ursprüngliche Version des Gesetzentwurfs sah ein Verfahren vor, diese Prinzipien zu gewährleisten. Es wurde vom Nationalen Beratungsgremium entwickelt, einer Art Schnittstelle zwischen der Zivilgesellschaft und der Regierung. Doch die Regierung hat es so stark beschnitten, dass es nun keine unabhängige Instanz mehr geben wird, an die Beschwerden gerichtet werden können. Stattdessen werden wohl eher weitere Beschäftigungsmöglichkeiten für pensionierte Regierungsbeamte geschaffen.

Vor allem aber fragen sich Befürworter und Gegner des Gesetzes, ob das staatliche Verteilsystem PDS die geplanten Leistungen überhaupt erbringen kann. Denn es arbeitet sehr unzuverlässig. In einigen Bundesstaaten geht man davon aus, dass von den Lebensmitteln, die verteilt werden sollen, etwa die Hälfte verschwindet. Schon lange wurde darüber diskutiert, die Naturalien durch finanzielle Hilfen zu ersetzen. Das hat sich in vielen anderen Ländern bewährt. 

Zweifellos verschwinden bei der staatlichen Verteilung viele Lebensmittel in dunklen Kanälen. Doch sind diese Verluste wohl nicht wesentlich größer als bei anderen Regierungsprojekten oder etwa beim Kauf von Rüstungsgütern. Laut Untersuchungen wurden zudem mit Hilfe von Reformen in einigen indischen Bundesstaaten die Verluste verringert – teilweise bis auf fünf Prozent und weniger. Laut den neuesten Schätzungen kommt bis zu einem Drittel des Getreides nicht bei den Familien an, für die es bestimmt war. Das ist immer noch sehr viel, aber deutlich weniger als früher.

Darüber hinaus galt dies für eine Situation, in der weniger als die Hälfte der Personen, die nach dem neuen Gesetz anspruchsberechtigt sind, über das Verteilsystem PDS versorgt wurden. Die Erfahrung mit Projekten, die nur für die Armen bestimmt sind, zeigt, dass sie nicht gut funktionieren – denn die Armen haben nicht genug Einfluss, um die Wirksamkeit zu verbessern. Die Ausweitung des staatlichen Verteilsystems auf mehr Anspruchsberechtigte bietet bessere Aussichten auf Erfolg: Der Druck auf den Staat, die versprochenen Leistungen auch zu erbringen, wird sich erhöhen.

Den Hunger verringern – ein lobenswertes Ziel 

Außerdem soll das neue Gesetz das PDS-System reformieren. Anstelle von privaten Lebensmittelläden sollen öffentliche Einrichtungen die Lebensmittel verteilen. Die Regierung soll das Getreide direkt dorthin liefern. Die Verteilung soll mit Hilfe von Computern registriert werden. Diese Reformen beruhen auf den Erfahrungen der Bundesstaaten, denen es gelungen ist, den korruptionsbedingten Schwund von Lebensmitteln in deutlichem Maße zu reduzieren.

Das neue Gesetz wird bestenfalls den Hunger verringern – und das ist in der Tat ein lobenswertes Ziel ist in einem Land, in dem trotz hohen Wirtschaftswachstums die höchste Zahl der hungernden Kinder, Frauen und Männer weltweit lebt. Dieses Ziel wird nicht nur durch den Verkauf von subventioniertem Getreide, sondern auch mit Hilfe der kostenlosen Mahlzeiten für Klein- und Grundschulkinder sowie Schwangere und stillende Mütter erreicht werden.

Vermutlich trägt das Gesetz auch dazu bei, die Mangelernährung zu verringern, weil Geld, das zuvor für Getreide ausgegeben werden musste, nun für qualitativ bessere Nahrungsmittel zur Verfügung steht. Aber die Schlacht gegen Mangelernährung ist noch nicht geschlagen. Denn Indien muss sich zusätzlich um Einflussfaktoren wie sicheres Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und bessere Gesundheitsdienste kümmern. Trotz seiner Mängel gibt das neue Gesetz zur Ernährungssicherheit aber mehr Anlass zur Hoffnung als zur Verzweiflung.

Aus dem Englischen von Anna Latz

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erschienen in Ausgabe 2 / 2014: Neue Helden der Arbeit
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