Kambodscha: Erinnerung an den Terror der Roten Khmer

Der 49-jährige Rithy Panh ist einer der renommiertesten Regisseure Asiens. Er leitet ein Filmzentrum in Phnom Penh und bildet junge Leute aus. Sie sollen die Geschichte ihres Landes verstehen lernen.

Es ist zehn Uhr morgens in Phnom Penh. Auf dem Schreibtisch liegen iPhone und Laptop neben Schmerztabletten, Zigaretten und einer Biografie über Pol Pot, den „Bruder Nr. 1“ der Roten Khmer. Im Regal steht eine Dose Rasierschaum, im Nachbarraum eine Liege. Rithy Panhs Büro ist halb Arbeits-, halb Wohnzimmer. Er greift nach einer Zigarre, köpft sie, klemmt sie zwischen die Finger, vergisst, sie anzuzünden. Er wirkt abwesend, erschöpft. Er hat eine dieser Nächte hinter sich, erzählt er später, in denen er statt zu schlafen „mit den Geistern der Vergangenheit verhandelte“. Sie kämen öfter, je älter er werde. Über seine Geschichte zu sprechen, habe nichts an der chronischen Schlaflosigkeit geändert: „Es hilft vor allem der nächsten Generation.“

Der 49-Jährige ist der wichtigste Dokumentarist des Terrors der Roten Khmer. Die maoistische Guerillabewegung ermordete während ihrer Herrschaft von 1975 bis 1978 etwa zwei Millionen Menschen, um in Kambodscha ihre Utopie einer klassenlosen, bäuerlichen Gesellschaft ohne Geld, Individualismus und westliche Einflüsse zu realisieren. An den Folgen leidet Kambodscha noch heute: 80 Prozent der fast 15 Millionen Einwohner leben von weniger als einem Dollar pro Tag, zehn Millionen Landminen lauern im Boden, viele Kliniken und Straßen blieben zerstört, viele Überlebende des Genozids sind traumatisiert, arbeitsunfähig. Kein Führer der Roten Khmer kam wegen seiner Verbrechen ins Gefängnis.

Autor

Eric Breitinger

ist Redakteur und freier Journalist in Zürich.

2003 brachte Panh für die Dokumentation „S 21“  Massenmörder und Überlebende zurück in das Tuol-Sleng-Foltergefängnis. Der Film erhielt zahlreiche Preise. Zuletzt hat Panh seine eigene Geschichte verarbeitet: In seinem berührenden Buch „Die Auslöschung“ erzählt er vom Tod seiner Eltern, seinem Überleben und der Qual, sich bei Interviews die Ausflüchte der Täter anhören zu müssen. In seinem neuen Film „Das fehlende Bild“ rekonstruiert er in nachgestellten Szenen mit Tonfiguren die verlorenen Bilder seiner Kindheit im Lager. Einen Tag vor seinem elften Geburtstag, am 17. April 1975, nahmen die Roten Khmer Phnom Penh ein. Rithy fiel auf, dass die Kämpfer auf der Straße niemandem in die Augen blickten. Sie unterteilten die Bevölkerung in zwei Lager: in das „alte“ Volk: die Bauern samt Roter Khmer. Das „neue Volk“ waren die Studierten, Gebildeten, Bourgeoisen: die Schmarotzer. Mit einer Brille, einem Schlips oder einem eigenen Kochtopf erwischt zu werden, konnte ein Todesurteil sein. Rithys Vater war Lehrer und Büroleiter mehrerer Erziehungsminister, ein Mann der weiße Anzüge und französische Gedichte liebte. Für die Roten Khmer waren er und seine Familie Feinde. Sie ließen ihnen im Arbeitslager die Wahl, „Kämpfer der Revolution oder Dünger für die Reisfelder zu werden“. Im Frühjahr bekam „Das fehlende Bild“  in Cannes den Preis „Un Certain Regard“. Im August kürte die Jury des Busan-Festivals in Hongkong Panh zu „Asiens Regisseur des Jahres“.

Arbeiten im „Haus der Geister“ 

Plötzlich schaltet er um, der Blick wach, aufmerksam, er spricht bestimmt und bedächtig. Seine Mitarbeiter bewundern seine Willenskraft, sein Streben nach Wahrheit und seine Fähigkeit, Schmerz und Leid zu ertragen. Er spricht über das Bophana-Zentrum, das er gegründet hat und seit sieben Jahren ehrenamtlich leitet. Die Regierung stellte das Gebäude, er ließ es renovieren und arbeitete die Zielsetzung des Instituts mit aus: Das Zentrum soll alles vom „audiovisuellen Erbe des Landes“ retten, was der Zerstörungswut der Roten Khmer entgangen ist. Panh glaubt, dass die Auseinandersetzung mit alten Fotos und Filmen der Jugend hilft, die Geschichte ihres Landes und ihrer Familien besser zu verstehen: „Sie brauchen die Erinnerung, um eine Identität zu entwickeln und die Demokratie aufzubauen.“ Mehr als jeder zweite Kambodschaner ist unter 25 Jahren alt.

Heute arbeiten 45 junge Kambodschaner hier im Zentrum. Sie nennen es das „Haus der Geister“ und bewahren in der Datenbank bereits über 3500 alte Dokumente auf: Angefangen vom ersten Film der Gebrüder Lumiere von 1899 über Tänzerinnen in Angkor, über Fotos von barbusigen Bäuerinnen und Pirogen aus dem Jahr 1866, bis hin zu aktuellen Dokumentationen. Im vergangenen Jahr erhielt das Zentrum über 100 Filme und 1000 Bilder aus aller Welt. In den Büros im zweiten Stock transkribieren Praktikantinnen aus Frankreich und den USA Dialoge und untertiteln Khmer-Streifen. Im Nachbarraum digitalisieren Mitarbeiter Zelluloid-Filme.

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Oben im dritten Stock schneiden zwei Nachwuchsregisseure, die 23-jährige Ngouem Phally und der 30-jährige Guillaume Suon, aus 60 Stunden Rohmaterial einen Film. Ihr Thema: Bettelarme Khmer-Bauern, die in Malaysia ein besseres Leben suchen. Panh schaut als Produzent öfter vorbei, begutachtet Szenen, gibt Rat, kritisiert. Er kann auch laut werden, sagen sie. Er fordere Präzision und vollen Einsatz und „er hasst es, seine Zeit zu verschwenden.“

Panh hat klare künstlerische Vorstellungen: Anders als Journalisten sollen seine Filmemacher monatelang den Alltag ihrer Hauptpersonen teilen und ihnen mit der Kamera nahe kommen, ohne ihre Würde zu verletzen. Immer wieder stellt Panh die Kardinalfrage: Was bringt unser Film der kambodschanischen Gesellschaft? Er sieht sich in der Nachfolge seines Vaters: Ohne den Genozid wäre er Lehrer geworden, sagt er: „Es ist ein großes Geschenk, gut unterrichten zu können.“ Man lerne viel. Seine Augen leuchten.

Ein älterer Zuschauer sagt: „Das ist meine Geschichte“ 

Panhs Zentrum hat bislang 120 Filmtechniker ausgebildet – und einige Nachwuchsregisseure: So hat Ngouem Phally durch die Filmarbeit Einblick in die „vielen Realitäten in meinem Land“ bekommen. Guillaume Suon ist dankbar, dass sein Lehrer das Schweigen über den Genozid bricht: „Wenn keiner spricht, müssen die Kinder das Trauma der Eltern leben.“ Der Satz trifft wohl auch auf ihn zu: Seine Mutter hat den Terror erlebt, erzählt aber nie davon.

Rithy Panh läuft im Gang auf und ab. Er telefoniert mit einem Produzenten in Frankreich, der für einen Film Asien-Kolorit braucht. Es ist heute schon der dritte Anrufer mit diesem Anliegen. Panh wechselt die Sprachen so leicht wie seine Identitäten. Nun spricht er französisch – nach dem Genozid kam er nach Paris. Heute arbeitet er eine Hälfte des Jahres dort, die andere hier. Im Moment klingt er wie ein Werber: Er preist Kambodscha als sicheres Land mit niedrigem Lohnniveau. „Wir haben hier alles.“ Auch könne das Zentrum den Film mitproduzieren oder Personal anheuern und Locations finden.

Sein großes Ziel ist es, Kambodschas Filmindustrie zu entwickeln. Sein kleines: die Abhängigkeit seines Zentrums von Spenden zu verringern. Auf Hilfsorganisationen kann er dabei nicht bauen: „Sie halten es nicht für nötig, der Jugend die Erinnerung zurückzugeben.“ Das Zentrum muss sich stärker selbst tragen. Bereits heute verdienen die Bophana-Leute ein Drittel des Jahresbudgets von 300.000 Dollar mit Filmaufträgen aus dem Ausland. Der Anteil soll wachsen.

Die Arbeit zeigt Wirkung. An fast allen Laptops und Monitoren im Saal im ersten Stock sitzen junge Kambodschaner. Laut Statistik sind die meisten Nutzer unter 25 Jahre alt und schauen Dokumentarfilme über die Roten Khmer. Die Bophana-Betreiber registrieren ein wachsendes Interesse an dem Thema auch, wenn sie mit ihrem Wanderkino von November bis April durch die Provinz touren. Sie stellen in den Dörfern Projektor und Leinwand auf. Oft kommen mehrere Hundert Zuschauer zu den Vorführungen. Nach dem Abspann einer Dokumentation steht dann schon einmal ein älterer Mann auf, sagt: „Das ist meine Geschichte“ und erzählt. Die jungen Leute hören zu. Sie wollen endlich wissen, warum sie ihren Großvater nie kennengelernt haben und was ihre Eltern damals erlebten. 

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erschienen in Ausgabe 12 / 2013: Unser täglich Fleisch
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