Der Appetit auf Geflügel wächst in allen Weltregionen. Hähnchen sind gewissermaßen das Fleisch der Postmoderne: Keine religiösen Tabus behindern den Verzehr, anders als beim Schwein oder beim Rind. In Mitteleuropa erlebte Hähnchenfleisch nach dem BSE-Skandal in den 1990ern Jahren seinen Siegeszug. Besonders in ernährungsbewussten Mittelschichten und in Diätratgebern ist Hähnchenfilet das beliebteste Fleischstück. Die Hühnermast braucht wenig Fläche und setzt das Futter effizienter in Fleisch um als im Fall der Schweine- oder Rindermast. Weltweit werden jährlich 100 Millionen Tonnen Hähnchenfleisch produziert, Fachleute erwarten Steigerungsraten von 2,2 Prozent pro Jahr.
In Deutschland ist der Hähnchenkonsum pro Person seit dem Jahr 2000 um mehr als ein Drittel auf 11,8 Kilogramm im Jahr gewachsen. Die Mäster haben viel Geld in die Produktion investiert und wurden dabei von Landesregierungen und mit Mitteln der Europäischen Union gefördert. Heute produziert Deutschland 1,2 Millionen Tonnen Geflügelfleisch jährlich. Ein Viertel der Tiere wird zum Schlachten in die Niederlande ausgeführt, weil es hierzulande nicht genügend Schlachthöfe gibt. Deshalb importiert Deutschland auch fast so viel Geflügelfleisch wie es exportiert. Der Selbstversorgungsgrad ist auf 125 Prozent gestiegen, das heißt die Deutschen produzieren ein Viertel mehr Hühnerfleisch, als sie selbst essen.
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Doch dabei ist Fleisch nicht gleich Fleisch. In Deutschland wird vor allem das Brustfilet verzehrt – es macht schätzungsweise gut zwei Drittel des Konsums aus, aber nur 25 Prozent vom Fleisch des Hähnchens. So kommt es, dass wir mehr Hühnerfleisch produzieren als verbrauchen und trotzdem noch welches importieren müssen: Eingeführt wird Brustfilet und zubereitetes Hähnchenfleisch; dafür werden Restfleischmengen, vor allem Rückenteil, Schenkel oder Flügel, exportiert, weil sie hierzulande keine Abnehmer finden. Das Brustfilet erzielt fünf bis neun Euro pro Kilo. Damit ist ein großer Teil der Kosten für die Produktion des Hähnchenfleisches gedeckt. Das „restliche“ Fleisch kann deshalb sehr viel billiger vermarktet werden. Aber erst der gesamte Erlös daraus macht das Geschäft wirklich profitabel – insbesondere seit bei uns die Preise unter Druck geraten sind.
Vielen Mastbetrieben droht der Ruin
Denn seit einigen Jahren stagniert der Fleischkonsum in Deutschland insgesamt, auch der von Geflügel. Das lässt die Preise sinken und erhöht die Konkurrenz unter den Mästern. Die Überproduktion bringt viele von ihnen in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Inzwischen räumt der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft ein, dass der enorme Ausbau der Mastbetriebe zu Niedrigpreisen und zu Rabattschlachten bei Lebensmitteldiscountern beigetragen hat, die viele Mäster in den Ruin führen werden – wenn nicht bald der Konsum anzieht oder neue lukrative Exportmärkte erschlossen werden. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat jahrelang versucht, durch eine Fleischexportoffensive bisher abgeschottete Agrarmärkte zu öffnen, etwa den riesigen indischen Hühnermarkt. Der Erfolg war bisher mäßig: Weniger als zehn Prozent der deutschen Hühnerproduktion wird in Länder außerhalb der EU exportiert, besonders nach Russland und in den Nahen Osten.
Doch das ändert sich jetzt. Den Weg dazu haben andere geebnet: Seit 15 Jahren fluten Großproduzenten wie die USA und Brasilien, aber auch EU-Länder wie die Niederlande, Frankreich, Belgien und seit kurzem auch Polen Westafrika mit billigen gefrorenen Hähnchenteilen. Nach der Gründung der Welthandelsorganisation WTO 1995 hatten viele afrikanische Regierungen niedrige Einfuhrzölle für Nahrungsmittel gewählt in der Hoffnung, dadurch die Versorgung ihrer wachsenden Großstädte zu verbessern. Sie haben so ihre Tore für die großen Fleischproduzenten geöffnet, zumal moderne Transportschiffe in ihren Kühlcontainern gefrorenes Fleisch über Wochen lagern können.
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Deutschland hat in diesem Geschäft in den vergangenen drei Jahren zunehmend Boden gutgemacht: Allein von 2011 bis 2012 hat es seine Geflügelfleischexporte nach Afrika von gut 19.000 Tonnen auf fast 43.000 Tonnen mehr als verdoppelt. Dasselbe gilt für die Exporte aus der EU nach Afrika insgesamt. Dennoch: Für Europa hat das Afrikageschäft immer noch keinen großen Stellenwert. Die Mengen, die dorthin gehen, und die Einnahmen daraus machen mit etwa drei Prozent nur einen Bruchteil der gesamten EU-Hähnchenproduktion aus. Der Kontinent gehört wegen der niedrigen Exportpreise nicht zum Kerngeschäft der EU-Schlachthöfe. Afrikanische Importeure bekommen Geflügelteile wie Flügel, Innereien, Hälse und Schenkel oder ganze Suppenhühner zu Schleuderpreisen.
Wegen des geringen Anteils ihrer Exporte nach Afrika haben die europäischen Geflügelkonzerne jahrelang zu den Vorwürfen geschwiegen, das Fleisch aus der EU habe die westafrikanische Geflügelproduktion zerstört. Doch die niedrigen Preise, zu denen afrikanische Importeure in Europa einkaufen, haben in vielen afrikanischen Ländern einen profitablen kleinbäuerlichen Sektor und auch große Geflügelfarmen vom Markt verdrängt.
Ein trauriges Beispiel dafür ist Ghana. Nur fünf Jahre brauchten die Importeure mit ihren billigen Hähnchenteilen aus der EU, den USA und Brasilien, um das lokale Angebot von lebenden Fleischhähnchen vom Markt zu verdrängen – darunter auch das von großen Farmen und mit funktionierenden Kühlketten. 120 Millionen Kilo Hühnerteile überschwemmen nun jährlich Accra, Kumasi und andere Großstädte, aber auch ländliche Regionen, sofern die Märkte nicht zu entlegen sind.
Die Konsumenten mögen sich jahrelang über das billige Huhn gefreut haben, das zunächst umgerechnet rund 1,50 Euro das Kilo kostete. Doch als 2008 die Nahrungsmittelpreise weltweit scharf anzogen, sahen die Importeure ihre Chance für Extra-profite. Die lokalen Produzenten gaben nun endgültig auf, da das Maisfutter zu teuer wurde. Und die Importeure verdoppelten die Verkaufspreise, obwohl sie weiter zu Dumpingpreisen in Europa einkauften. Seitdem kosten importierte Hähnchenteile auf dem Kaneshi-Markt in Accra 2,50 Euro das Kilo und mehr und sind damit genauso teuer oder sogar teurer als das lokale Hühnerfleisch vor der Exportflut. Die Gewinne streichen Importeure ein; sie sind die Gehilfen der Geflügelkonzerne, die aus ihren Resten noch Geld bei den Armen schlagen. Mit dem Anstieg der Ausfuhren aus Deutschland und Europa nach Afrika stehen die Helfer der Geflügelkonzerne in Politik, Bauernverband und Agrarbürokratie plötzlich unter Rechtfertigungsdruck. Jetzt kann besonders in Deutschland nicht mehr behauptet werden – wie es der Marktführer Wiesenhof jahrelang getan hat –, man wisse nicht, ob nach Afrika exportiert wird oder nicht.
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Doch die Industrie stellt sich nicht etwa der Kritik, sondern manche ihrer Vertreter drehen den Spieß einfach um: Es wird nicht mehr behauptet, deutsche Hühner könnten gar nicht in Afrika landen, sondern nun heißt es, die billigen Hühnerteile seien ein großer Segen für die hungernde, arme Bevölkerung auf dem Nachbarkontinent. Überall dort, wo es Importverbote für EU-Hühner gebe, seien Entwicklungsorganisationen wie „Brot für die Welt“ mit ihren Kampagnen und ihren Komplizen in Afrika, den Kleinbauernverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen, verantwortlich dafür, dass die Menschen eine billige Proteinquelle verloren hätten. Damit seien sie für die Mangelernährung Tausender Kinder in Afrika verantwortlich.
Das Argument, es sei doch gut, dass arme Menschen sich nun billiges Hähnchenfleisch leisten können, fällt angesichts der Dauerberieselung mit Bildern von Hunger und Elend in Afrika hierzulande auf fruchtbaren Boden. Ein Beispiel dafür ist Südafrika. Innerhalb von nur drei Jahren haben sich die Hühnerfleisch-Exporte aus der EU dorthin versiebenfacht, von 16.000 Tonnen 2010 auf 118.000 Tonnen. Südafrikanische Importeure und deutsche Exporteure betonen, wie sehr die arme Bevölkerung der Townships von den billigen Hühnern aus Deutschland profitiere.
Das Fleisch ist oft mit Keimen belastet
Doch die südafrikanischen Gewerkschaften der Arbeiter in Schlachthäusern und Hühnerfarmen warnen in seltener Einmütigkeit mit den einheimischen industriellen Geflügelproduzenten: Wenn die Importe weiter zunähmen, dann seien bis zu 100.000 Arbeitsplätze in Gefahr. Gegenwärtig machen die Einfuhren aus dem Ausland zehn Prozent des Angebots an Geflügelfleisch in Südafrika aus. Gegen Brasilien, das mit dem Hühnerdumping in der Kap-Republik angefangen hat, wehrt sich das Land bei der WTO mit einem Antidumpingverfahren und will Schutzzölle erheben.
Doch gegen die EU ist das kaum möglich: Nach dem Ende der Apartheid schlossen Brüssel und die südafrikanische Regierung ein Freihandelsabkommen, nach dem Fleisch aus Europa zollfrei eingeführt werden darf. Die Südafrikaner setzten im Gegenzug auf einen zollfreien Zugang zu den Obst- und Gemüsemärkten in Europa. Damals versorgte die südafrikanische Fleischindustrie ihre Bevölkerung noch selbst und man konnte sich nicht vorstellen, dass gerade Europa mit seiner Hochpreisproduktion afrikanische Märkte würde erobern können.
Andere afrikanische Länder wollten diesem leisen Sterben der Geflügelzucht nicht zusehen und schlossen ihre Tore für Importe, meist nach öffentlichen Kampagnen von Geflügelzüchtern und Verbrauchern. Für die spielten Fragen der Gesundheit eine Rolle: Das Fleisch aus Europa geht oft in Länder, in denen keine geschlossene Kühlkette bis zum Verkauf gewährleistet ist. Das Fleisch, das auf den Marktständen angeboten wird, ist oft mit Keimen belastet, die zu Darmkrankheiten führen.
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So begann schon 2005 in Kamerun die Bewegung gegen „die Hühner des Todes“. Nigeria und die Elfenbeinküste schlossen sich an. In allen drei Ländern gilt seitdem ein Importverbot für gefrorenes Fleisch. Der Senegal hat sein Verbot vor kurzem bis 2020 verlängert. In all diesen Ländern schafft es die lokale Geflügelwirtschaft, die sowohl aus kleinbäuerlichen als auch aus semi-industriellen Betrieben besteht, mühsam, aber stetig die Produktion zu steigern. Das lokale Geflügel ist nicht so günstig wie die EU-Billighähnchen bis zu den Importverboten, die Preise sind aber mit circa 1,90 Euro für das Kilo niedriger als zu der Zeit vor den Importen.
Auf den Märkten werden die Hühner nun auch gerupft und geschlachtet und nicht mehr nur lebend angeboten. Und für Menschen mit sehr geringem Einkommen gibt es jetzt auch Hähnchenteile. Gefrorene Teile werden mit kleinen Kühlwagen in Außenbezirke der Großstädte gebracht, wie zum Beispiel in Dakar. Was ebenso wichtig ist: Die kleinbäuerlichen Produzenten, vor allem Frauen, haben wieder angefangen, kleine Hähnchenmasten mit 200 bis 500 Küken aufzubauen. Sie nehmen Kleinkredite auf und erwirtschaften so ein zusätzliches Einkommen für ihre Familien.
Die Importe konterkarieren entwicklungspolitische Initiativen
Andere Importländer wie Liberia, Sierra Leone oder die beiden Kongos, die Gewaltkonflikte erleben oder erlebt haben, haben keine Chance, eine eigene Tierhaltung aufzubauen, die für jede nachhaltige Landwirtschaft ein absolutes Muss ist. Der Hühnermist etwa ist für die kleinbäuerlichen Gemüse- und Obstgärten besonders wertvoll. In diesen Ländern können Importeure ungeniert jeden Preis für ihre Billigware aus der EU, den USA oder Brasilien verlangen. So kosten fast fleischlose Hühnerflügel in Brazzaville drei Euro das Kilo. In Luanda, der Hauptstadt Angolas, werden Hühnerfüße für 2,50 Euro verkauft, damit das Essen wenigstens ein wenig nach Fleisch schmeckt. Die wenigen großen Lebendhühner auf dem Markt von Monrovia kosten zwölf Euro und sind nur für die Teller der ausländischen Entwicklungsexperten und der reichen lokalen Elite.
Mittlerweile fordern nicht mehr nur zivilgesellschaftliche Entwicklungsorganisationen, sondern auch Fachleute staatlicher Entwicklungsagenturen, dass dem Vordringen europäischer Lebensmittel auf die afrikanischen Märkte Einhalt geboten werden muss; das gilt besonders für verarbeitete Nahrung. Denn diese Importe konterkarieren die unzähligen entwicklungspolitischen Agrarinitiativen, die gerade in Afrika mit viel Geld versuchen, die landwirtschaftliche Produktion zu steigern und die Versorgung lokaler Märkte zu verbessern.
Die Erfolge von Ländern, die die Importe begrenzt haben, zeigen, dass Regierungen in Afrika bei der Ausarbeitung wirksamer handelspolitischer Instrumente unterstützt werden müssen, um den Zugriff ausländischer Nahrungskonzerne auf afrikanische Märkte zu verhindern. Und in Europa muss den zynischen Rufen von Agrobusiness, Bauernverbänden und Agrarpolitikern begegnet werden, die eine exportorientierte Intensivlandwirtschaft und Massentierhaltung zunehmend damit begründen, ein Ausbau der ökologischen Landwirtschaft hier bei uns sei ein Verbrechen an den hungernden Kindern Afrikas.
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