Tödliche Mischung

Die zahlreichen Bauernselbstmorde in Indien haben vielfältige Ursachen

Von Malcolm Harper

Zwischen 1996 und 2006 sollen sich etwa 150.000 indische Bauern das Leben genommen haben. Allein 2007 waren es laut Medienberichten 16.632. Diese Suizide haben auch international Aufsehen erregt. Doch trotz zahlreicher Gutachten von Expertenkommissionen zeigt sich die Regierung unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Ihr 2008 verkündeter Schuldenerlass schadet eher noch.

Selbstmorde kommen bedauerlicherweise auf der ganzen Welt häufig vor, sind aber laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in manchen Ländern stärker verbreitet als in anderen. Die offiziell erfassten Selbstmordraten pro 100.000 Personen reichen von über 30 Fällen pro Jahr bis weniger als 5. Für 2005 waren es in Mexiko und Brasilien 4, in Japan dagegen 22 und in Russland 32. In Deutschland, Indien und den USA waren es um die zwölf. Innerhalb Indiens gehen die Zahlen ebenso weit auseinander. In Bihar, dem ärmsten Bundesstaat mit etwa 90 Millionen Einwohnern, gab es rund 2 Selbstmordfälle auf 100.000 Menschen, in den wohlhabenderen südindischen Staaten Andhra Pradesh und Maharashtra 14 und in Kerala mehr als 30. Bauern sind zudem stärker suizidgefährdet als andere Gruppen. So begingen in Großbritannien zwischen 1993 und 2004 stets mehr Landwirte Selbstmord als Landarbeiter oder andere abhängig Beschäftigte.

Daher stellt sich die Frage, ob die zunehmende Zahl der Selbstmorde unter Bauern in Indien tatsächlich aus dem Rahmen fällt. Daten aus einigen indischen Verwaltungsbezirken legen das nahe. Im Bezirk Amravati im Bundesstaat Maharashtra beispielsweise lag die Selbstmordrate unter Bauern mit eigenem Landbesitz im Jahr 1995 bei 17. Bis 2004 war sie nach Angaben des Indira Gandhi Institute of Development Research in Mumbai auf 53 angestiegen. Eine ähnlich starke Zunahme wurde auch in anderen Baumwollanbaugebieten beobachtet.

Kommentatoren machen für diese Selbstmorde jeweils die Faktoren verantwortlich, die ihrer vorgefassten Meinung am ehesten entsprechen. Die Bauern, die sich das Leben genommen haben, hatten viele verschiedene Produkte angebaut. Die meisten produzierten jedoch eher für den Verkauf als für den eigenen Verbrauch. Am häufigsten produzierten sie Baumwolle, deren Anbau in Indien in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat. Als Ursache der Suizide wurden deshalb bestimmte Aspekte der Baumwollproduktion ausgemacht, darunter das genetisch modifizierte Saatgut. Prinz Charles etwa sprach von der „tragisch hohen Zahl an Selbstmorden unter den indischen Kleinbauern, die zum Teil durch das Versagen vieler genetisch modifizierter Sorten bedingt waren".

Doch laut einem Gutachten des International Food Policy Research Institute (IFPRI) in Washington gab es Selbstmorde unter den Baumwollfarmern bereits vor der Einführung von genetisch verändertem Saatgut im Jahr 2002, und ihre Zahl hat seitdem nicht zugenommen. Nicht das Saatgut als solches bringt also die Bauern in Bedrängnis. Allerdings erfordert es genau wie andere hochgezüchtete Sorten oft höhere Investitionen, eine zuverlässigere Bewässerung und anspruchsvollere Anbaumethoden. Wenn die Bauern die entsprechenden Mittel nicht aufbringen können oder wenn es ihnen an Wasser oder den erforderlichen Kenntnissen fehlt, kann ihre Entscheidung für die neuen Sorten Verluste zur Folge haben. Minderwertiges Saatgut ist ein weiteres Problem. Im Jahr 2006 machte die Gen-Baumwolle bereits an die 40 Prozent des gesamten indischen Baumwollanbaus aus. Seit der Einführung der genmodifizierten Saaten hatten die Erträge sich beinahe verdoppelt; Indien hat die USA überholt und ist nach China der zweitstärkste Baumwollproduzent der Welt geworden. Angesichts der enormen Beliebtheit der neuen Sorten, des geringen Bildungsniveaus vieler indischer Bauern und unzureichender Schutz- und Urheberrechte ist es kein Wunder, dass massenhaft gefälschtes Saatgut auf den Markt gelangt. Nach Schätzungen ist etwa ein Drittel der modifizierten Baumwollsamen nicht echt, und davon ist wiederum etwa ein Drittel minderwertig. Die geringeren Erträge aus solchen Saaten stehen nicht im Verhältnis zu den erhöhten Kosten für das Saatgut selbst und die übrigen Investitionen. Bauern, die solches Saatgut kaufen, werden geschädigt und es gibt Hinweise, dass Händler Kredite anbieten, um für minderwertige Ware Käufer zu finden.

Kurz: Indirekt mag die Gen-Baumwolle zu der Notlage und den Selbstmorden der Bauern beigetragen haben, aber die direkteren Ursachen sind geringe Bildung, der unverantwortliche Vertrieb der Saaten und unzureichende Kreditgewährung. Vielleicht ist die Gen-Baumwolle nicht für alle indischen Kleinbauern das Richtige, aber das Saatgut kann nicht allein für den Missbrauch verantwortlich gemacht werden, der mit ihm getrieben wird. Schlagworte wie „GM-Genozid", das vom kalifornischen Forschungsinstitut Center for Research on Globalization geprägt wurde, täuschen über die eigentlichen Probleme hinweg.

Ein Gutachten der Regierung von Maharashtra sieht in der Globalisierung die tiefere Ursache. Es erhebt die üblichen Vorwürfe gegen den Anbau für den Markt im Vergleich zur Subsistenzwirtschaft und kritisiert den zunehmenden Einfluss der Weltmärkte auf die Preise in Indien. Damit wird eine Rückkehr zu den politischen Prinzipien aus der Zeit von 1947 bis 1991 propagiert, die in idealistischen, an Mahatma Gandhi orientierten Vorstellungen von einer kleinbäuerlichen Wirtschaft wurzeln, wo jeder seine eigene Baumwolle spinnt und seine Nahrungsmittel selbst anbaut. Doch die indischen Bauern wollen, wie wir alle, ihren Lebensstandard verbessern. Das geschieht nicht durch Selbstversorgung, sondern setzt seit zunehmende Arbeitsteilung im einzelnen Haushalt, im Dorf und auch im ganzen Land voraus.

Subventionen für die Baumwollproduktion in anderen Ländern werden in dem Gutachten ebenfalls kritisiert, da sie auf die Weltmarktpreise drücken und dadurch den indischen Baumwollbauern schaden. Doch gibt es ganz unterschiedliche Meinungen darüber, wie sehr die Weltmarktpreise tatsächlich durch die Subventionen in den USA verzerrt werden. Man kann auch die Ansicht vertreten, dass heutzutage nicht mehr die USA oder Europa den weltweiten Baumwollmarkt beherrschen und manipulieren, sondern China und Indien.

Die indischen Stützpreise liegen seit einigen Jahren deutlich über den Weltmarktpreisen. Indien und China haben seit 2005 ihre gesamte Jahresproduktion an Baumwolle um jeweils etwa 13 Millionen Ballen gesteigert, während die Produktion in Pakistan, den Vereinigten Staaten, Burkina Faso, Mali, Niger und Tschad etwa in demselben Umfang zurückgegangen ist. Die ausländischen Einflüsse, denen am häufigsten die Schuld an den Bauernselbstmorden in Indien gegeben wird, müssen also etwas differenzierter gesehen werden.

Fest steht, dass die Bauern, die Selbstmord begingen, überwiegend hoch verschuldet waren. In den meisten Fällen schuldeten sie das Geld zu mehr als 75 Prozent nicht offiziellen Geldinstituten, sondern privaten Geldverleihern. Die Befunde des All India Debt and Investment Survey zeigen, dass der Anteil der privaten Verleiher an der Gesamtverschuldung im vergangenen Jahrzehnt zugenommen hat, obwohl vermehrt offizielle Kredite gewährt werden. Zwar gibt es in Indien mehr als 93.000 genossenschaftliche Kreditkassen (Primary Agricultural Credit Societies, PACS). Sie wurden 1904 mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet, die Bauern von privaten Geldverleihern unabhängiger zu machen. Das Netz ihrer Filialen wird von den Institutionen der Bezirke, der Bundesstaaten und des ganzen Landes unterstützt. Doch sie stehen zum großen Teil vor dem Aus. Die, die noch funktionieren, tun nicht viel mehr, als Regierungsprogramme umzusetzen. Oft können nur selbstständige Bauern Mitglieder werden und Pachtbauern, denen es in der Regel schlechter geht, sind ausgeschlossen.

Die indische Regierung hat schon viele Komitees eingesetzt, um die Selbstmorde unter Bauern zu untersuchen und Gegenmaßnahmen vorzuschlagen. Deren Empfehlung lautete stets: All die Programme, die in der Vergangenheit initiiert wurden, um den Bauern zu helfen, müssten konsequent verwirklicht werden und die entsprechenden Institutionen sollen korrekt arbeiten. Die Misserfolge dieser Projekte hängen jedoch eng mit der Korruption und der Bürokratie zusammen, an denen die meisten Regierungsprogramme kranken. Im Grunde sagen diese Gutachten nur, dass Indien nicht so sein darf, wie es ist. Das mag wohl stimmen, aber eine praktische Lösung für das Suizidproblem ist es nicht.

Leider besteht zudem ein direkter Zusammenhang zwischen den Selbstmorden und manchen Formen der finanziellen Unterstützung. Die indische Zentralregierung und die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten vergeben üblicherweise sogenannte ex gratia-Zahlungen von umgerechnet etwa 2000 US-Dollar an Familien, deren Angehörige auf tragische Weise und unter öffentlicher Anteilnahme zu Tode gekommen sind. Solche Zuwendungen gehen auch an die Witwen der Selbstmörder und werden ebenfalls publik. Das spielt wohl manchmal eine gewisse Rolle, wenn sich ein Bauer schließlich für den Selbstmord entscheidet. Das geht so weit, dass Angehörige einen Suizid vortäuschen, nachdem ein Bauer eines natürlichen Todes gestorben ist. Mir wurde von einem Fall berichtet, in dem eine Witwe vergeblich versucht hatte, eine Beihilfe zu bekommen, indem sie ihrem toten Ehemann eine leere Pestizidflasche in den Mund schob.

Ende 2007 stellte die indische Landwirtschaftsbank NABARD auf Wunsch des Landwirtschaftsministers erneut ein kleines Expertengremium zusammen, das Vorschläge erarbeiten sollte, um die Zahl der Bauernselbstmorde zu verringern. Gemeinsam mit vier weiteren Fachleuten untersuchte ich bereits vorliegende Gutachten und sprach sowohl mit Frauen, deren Männer sich das Leben genommen hatten, als auch mit Vertretern der Banken, denen sie Geld schuldeten. Wir entwickelten Empfehlungen zu Finanzierung, Versicherung, Sozialfonds und Anbaumethoden.

Ein besonders attraktives populistisches Instrument ist ein Schuldenerlass für Bauernfamilien. Bereits 1989 hatte die Regierung den Bauern alle offenen Schulden erlassen, sofern sie gewissen Kriterien genügten. Das hatte allerdings schlimme und vorher nicht bedachte Folgen: Viele Bauern zahlten Kredite nicht mehr wie vereinbart zurück, und so schwand die Bereitschaft der Banken, neue Kredite zu gewähren. Unserem Gremium wurde zugesichert, dass dieser Fehler sich nicht wiederholen sollte. Doch sahen wir ein, dass das Verlangen der Öffentlichkeit nach einer spektakulären und hoffentlich weniger kontraproduktiven Intervention dieser Art nicht enttäuscht werden durfte. Deshalb empfahlen wir eine „einmalige Bereinigung" der Bankschulden, durch die in den Bezirken mit den meisten Selbstmorden 90 Prozent der Schulden der Bauern gelöscht worden wären, 70 Prozent in den weniger betroffenen und 30 Prozent in den am geringsten betroffenen Bezirken. Zwar war auch dies ein partieller Schuldenerlass unter anderem Namen. Doch in einigen Bundesstaaten hatte es ähnliche Regelungen gegeben, ohne dass allzu viel Schaden angerichtet worden war. Zudem hatte man uns zu verstehen gegeben, dass unsere anderen Empfehlungen ohne eine solche Initiative politisch nicht akzeptabel wären.

Darüber hinaus schlugen wir einen Refinanzierungsplan vor: Banken sollten den Bauern, die Kredithaien vor Ort Geld schuldeten, Kredite zur Ablösung dieser Schulden anbieten können. Dies wäre nicht einfach, weil viele der inoffiziellen Anleihen nicht rechtskräftig dokumentiert sind, aber einige Banken in Südindien haben bewiesen, dass es möglich ist. Zusätzlich empfahlen wir die Einführung und den Ausbau einer wetterbezogenen Ernteversicherung, um Risiken wie Ausfälle infolge von Dürre oder Überschwemmungen zu begrenzen. Das hatte sich in Andhra Pradesh bereits bewährt. Dazu wären umfangreiche Investitionen in Wetterstationen und die dazugehörige Infrastruktur notwendig. Wir plädierten zudem dafür, dass die bereits bestehenden und erfolgreichen Programme zur Förderung nachhaltiger Landwirtschaft in breitem Umfang umgesetzt würden. Denn viele Bauern verschulden sich vor allem, weil sie in Düngemittel, Herbizide und Pestizide investieren müssen. Der ökologische Anbau macht deren Einsatz weitgehend überflüssig.

Die Verwirklichung all dieser Vorschläge hätte insgesamt etwas über 2,5 Milliarden US-Dollar gekostet, wovon der größte Teil auf die einmalige Schuldentilgung entfallen wäre. Doch obwohl unser Gutachten dem Landwirtschaftsministerium ordnungsgemäß vorgelegt worden war, wurde es dort vollständig ignoriert. Stattdessen enthielt der Haushaltsplan für Februar 2008, für den unsere Vorschläge gedacht waren, einen riesigen Schuldenerlass, der um die 15 Milliarden US-Dollar kostete. Dieser erwies sich schon bald als Fehlschlag: Die Zahl der Bauern, die ihren Zahlungen an die Banken auf dem Land nicht nachkamen, nahm dramatisch zu. Die ärmsten Bauern hatten aber nichts von dem Erlass, weil er Schulden bei privaten Geldverleihern nicht abdeckte.

Unterdessen setzt sich die Selbstmordwelle unvermindert fort. In der ersten Januarwoche 2009 nahmen sich im Bezirk Amravati (Maharashtra) zwölf Baumwollfarmer das Leben, auch Bauern in Kerala und in Karnataka verübten Selbstmord. Eine einfache Lösung wie der Schuldenerlass ist keine Lösung für ein so vielschichtiges Problem.
Aus dem Englischen von Anna Latz.

Malcolm Harper ist Experte für Mikrofinanzierung und hat dazu zahlreiche Bücher verfasst. Er gehörte einem Expertengremium an, das im Auftrag der indischen Regierung Ende 2007 Vorschläge zur Verbesserung der Lage der Bauern erarbeitete.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2009: Südafrika: Neue Freiheit, alte Armut

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