Ordnungshüter im Kampfeinsatz

Ab 2014 sind die Afghanen selbst für ihre Sicherheit verantwortlich. Auf ihre Polizei sollten sie dabei besser nicht setzen. Denn die trägt wenig zum Schutz der Bürger bei – was auch daran liegt, dass die Hilfe aus dem Westen kein klares Ziel hat.

Die Afghanische Nationalpolizei (ANP) war in den Jahren nach dem Sturz der Taliban in einem desolaten Zustand. Anstatt sie zu schützen, beuteten viele Polizisten Bürger aus und verletzten Menschenrechte. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Kriegsfürsten ihre Milizen in die Polizei integriert hatten. Es dominierten Korruption und Vetternwirtschaft, von der Distrikt- und Provinzebene bis ins Kabuler Innenministerium und in den Präsidentenpalast. Das half aufständischen Gruppen bei der Rekrutierung von Anhängern: Zwar waren die Taliban nie populär in Afghanistan, viele Bürger ziehen sie aber bis heute einem brutalen und ausbeuterischen Staat vor.

Seit 2009 hat der Westen seine Unterstützung für die Polizei und die afghanischen Streitkräfte wesentlich aufgestockt. Die NATO unterstützt die Nationalpolizei mit mehreren Milliarden Euro pro Jahr; sie kauft Waffen, Munition und Fahrzeuge, bildet afghanische Polizisten aus und versucht, polizeiliche Befehls- und Verwaltungsstrukturen zu reformieren. Auch haben internationale Geber die Gehälter für afghanische Polizisten auf rund 160 Euro pro Monat deutlich erhöht und versuchen durch die Einführung eines elektronischen Zahlungssystems zu verhindern, dass Polizeikommandeure die Gehälter ihrer Polizisten stehlen.

Autor

Cornelius Friesendorf

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/Main. Er war zuletzt im Juli 2013 zur Forschung in Afghanistan.

Die ANP hat derzeit rund 150.000 Beamte. Hinzu kommen die Grenzpolizei, Einheiten zur Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung und eine Bereitschaftspolizei. Zusätzlich gibt es milizähnliche Hilfspolizeien, vor allem die afghanische Lokalpolizei (ALP), die auf mindestens 30.000 Mitglieder wachsen soll. Es ist unklar, ob die Hilfe aus dem Westen dazu geführt hat, dass die ANP heute besser aufgestellt ist als vor einigen Jahren. Die NATO will bis Ende 2014 die Verantwortung für die Sicherheit an afghanische Sicherheitskräfte übergeben und neigt dazu, die Situation schön zu reden. Laut einigen Umfragen vertrauen die meisten Afghanen ihren Polizisten; doch es ist fragwürdig, wie zuverlässig Umfrageergebnisse in Afghanistan sind. Es gibt weiterhin viele Berichte über Polizeigewalt. Viele Beamte sind korrupt, können nicht lesen und schreiben oder nehmen Drogen; das verhindert eine effektive Strafverfolgung. Frauen gibt es kaum in der ANP, und selbst begabte Polizistinnen werden oft nur zum Teekochen abgestellt.

Es gibt nur ansatzweise eine Tradition rechtsstaatlicher Polizeiarbeit

Viele Polizisten verlassen die ANP wieder, manche als Deserteure. Das liegt auch an den hohen Risiken: So wurden im Sommer 2013 durchschnittlich 75 Polizisten pro Woche getötet, etwa doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Denn für Aufständische ist es weiterhin leichter, Polizisten anzugreifen als die afghanische Armee oder NATO-Soldaten. Sie töten Polizisten mit Sprengfallen, bei Angriffen auf Straßensperren und Polizeiquartiere, auf dem Weg zur Arbeit und zu Hause.

Trotz der vielen Opfer will das Kabuler Innenministerium die Polizei weiter gegen Aufständische einsetzen. Die leitenden Positionen im Ministerium sind von früheren Kämpfern besetzt, die Operationen gegen Aufständische wichtiger finden als die Aufklärung von Straftaten und den Schutz der Bevölkerung. Sie führen die noch aus der Zeit der kommunistischen Herrschaft in den 1980er Jahren stammende Praxis fort, kleine Polizeiposten und Straßenkontrollen im ganzen Land aufzustellen, obwohl diese den Aufständischen leichte Angriffsziele bieten.

Insgesamt gibt es in Afghanistan nur ansatzweise eine Tradition ziviler und rechtsstaatlicher Polizeiarbeit. Sie reicht vor die Zeit der kommunistischen Herrschaft zurück und wurde im jahrzehntelangen Krieg verdrängt. Die USA haben wesentlich dazu beitragen, aus der ANP eine leichte Infanterie zu machen. Im Jahr 2005 wechselte die Federführung für die Polizeihilfe vom US-Außenministerium zum Pentagon. Daraufhin erhöhte Washington seine Mittel enorm: Die USA haben in den vergangenen Jahren rund 90 Prozent der Gelder, Ausbilder und Mentoren, die höhere Polizeikommandeure und Mitarbeiter von Ministerien beraten, für die Polizeihilfe bereitgestellt.

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Zugleich wurde allerdings mit dem Pentagon die Polizeireform auf eine kurzfristige Militarisierung reduziert. Die afghanischen Polizisten erhielten sechswöchige Schnellkurse, in denen sie vor allem das Schießen und das Errichten von Straßensperren lernten. Sie bekamen außerdem automatische Waffen und geländegängige Fahrzeuge. Das aber bereitet die Beamten nur unzureichend auf ihren eigenen und den Schutz von Zivilisten vor.

Laut einer Polizeistrategie von 2010 hat die reguläre uniformierte Polizei nicht die Aufgabe, offensiv gegen Aufständische vorzugehen. In der Praxis gibt es aber ständig solche Operationen. Die afghanische Armee, der afghanische Geheimdienst NDS und die US-Streitkräfte greifen für Einsätze oft auf jene Sicherheitskräfte zurück, die schnell verfügbar sind – und das sind meist die schlecht ausgebildeten und schlecht ausgestatteten Polizisten.

Andere polizeiliche Aufgaben werden dagegen vernachlässigt. So gibt es nur relativ wenige Polizisten, die für kriminalpolizeiliche Ermittlungen zuständig sind. Auch bei der Kontrolle von Demonstrationen hapert es. Oftmals haben afghanische Polizisten in die Menge geschossen, weil sie keine nicht-tödlichen Waffen hatten und schlecht ausgebildet waren. Die US-amerikanische Präferenz für den Kampf ist eindeutig.

Wer nicht zahlt, wird getötet

Besonders problematisch ist die US-amerikanische Unterstützung der miliz-ähnlichen Afghan Local Police. Die ALP ist das bislang größte von den USA geförderte Milizprogramm in Afghanistan. ALP-Einheiten werden vor Ort an ihren Heimatstandorten rekrutiert und sollen ihre Distrikte gegen Aufständische und Kriminelle verteidigen. Spezialkräfte des US-Militärs bilden sie aus, haben sie in manchen Fällen bewaffnet und begleiten sie bei Einsätzen.

An manchen Orten, vor allem in paschtunischen Gebieten in Südafghanistan, hat die ALP die Sicherheitslage verbessert. In anderen hingegen hat sie Bürger getötet, misshandelt und bestohlen und viele in die Arme der Taliban getrieben. Vor allem in den nordafghanischen Provinzen Kundus und Baghlan, in denen die Bundeswehr stationiert ist, hat die ALP die Lage destabilisiert. Afghanen aus der Gruppe der Tadschiken befürchten, dass die Miliz die Paschtunen stärkt; die Paschtunen dagegen leiden oft selbst unter ihr.

In diesen Provinzen schwelen seit langem viele kleine lokale Konflikte, und die ALP-Einheiten werden häufig von einer Konfliktpartei dominiert. Sie nutzt die Waffen und die politische Legitimität der Polizisten, um gegnerische Gruppen zu unterdrücken und sich selbst zu bereichern, etwa indem sie ‚islamische’ Steuern erhebt: Wer nicht zahlt, wird getötet. Dennoch hat der frühere Kommandeur der internationalen Truppen in Afghanistan, General David Petraeus, die ALP verniedlichend „eine Nachbarschaftsmiliz mit Kalaschnikows“ genannt.

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Offiziell untersteht die ALP dem Kabuler Innenministerium, doch dort fehlt es an effektiver und rechtstaatlicher Kontrolle. Hinzu kommt, dass die Justiz kaum funktioniert. So sagten Vertreter der UN-Mission in Afghanistan im Juli 2013, sie wüssten von keinen laufenden Verfahren gegen ALP-Mitglieder in Nordafghanistan, trotz vieler Berichte über Verbrechen. Und der afghanische Vertreter einer Hilfsorganisation in Kundus sagte: „Alle haben Angst vor der ALP. Wenn du Sicherheit für dich und deine Familie willst, dann muss jemand aus der Familie bei der ALP sein.“

Die USA unterstützen die Miliz trotzdem weiter. Sie ist billiger als eine größere reguläre Polizei. Dass extrem viele Opfer auf ihr Konto gehen – noch mehr als bei der regulären Nationalpolizei –, stört auf politischer Ebene niemanden. Washington hofft außerdem darauf, ALP-Einheiten schnell wieder abschaffen zu können, sobald sich die Sicherheitslage stabilisiert hat.

Neben den USA unterstützen weitere westliche Staaten die Afghanische Nationalpolizei. Viele von ihnen legen mehr Wert auf zivilpolizeiliche Konzepte wie eine bürgernahe Polizeiarbeit (community policing). Deutschland übernahm 2002 offiziell die Federführung für den Polizeiaufbau und versuchte, ein zivilpolizeiliches Modell zu exportieren. Dem entgegen standen allerdings die angespannte Sicherheitslage in Afghanistan, die Dominanz des Pentagon sowie der anfängliche Mangel an Geld, Ausbildern und Mentoren. Bis heute sind die Programme der Staaten, die größeren Wert auf eine zivile Polizeiarbeit legen, wenig mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Ende 2013 werden nur noch 130 deutsche Polizisten da sein

Seit 2010 sind bis zu 200 Ausbilder aus Deutschland für das bilaterale Polizeiprojekt in Afghanistan; hinzu kommen Beamte für die Polizeimission der Europäischen Union (EUPOL-Afghanistan). In mehreren Ausbildungszentren in Kabul und Nordafghanistan versuchen deutsche Polizisten, afghanischen Rekruten möglichst schnell – und nicht selten abweichend von den aus den USA beeinflussten Curricula – so viel Polizeiwissen wie möglich zu vermitteln. Viele Forderungen der USA wollten das Bundesinnenministerium und leitende deutsche Beamte nicht erfüllen. So durften deutsche Polizisten in den vergangenen Jahren nur unter strengen Auflagen ihre Festungen in Nordafghanistan verlassen. Auch hält sich Deutschland von der afghanischen Gendarmerie und von der ALP fern – vor allem letztere kritisieren deutsche Polizisten hinter vorgehaltener Hand vehement.

Die deutsche Ausbildung zeigt durchaus Erfolge, sie können aber nur anekdotisch präsentiert werden: Eine systematische Evaluation gibt es nicht. Die deutsche Ausbilder erhalten keine Informationen darüber, wie sich die Polizisten nach ihrer Ausbildung im Einsatz verhalten, weil das Kabuler Innenministerium solche Information nicht systematisch erhebt. Es ist somit unklar, ob die internationale Ausbildung die Überlebenschancen der ANP erhöht und zu einem besseren Schutz der afghanischen Bevölkerung führt.

Fraglich ist auch, ob die Investitionen Deutschlands und anderer Geber dauerhaft wirken. In der jetzigen Übergangsphase wollen deutsche Polizisten vor allem sicherstellen, dass die Polizeiausbildung auch nach dem Abzug der meisten internationalen Ausbilder im Jahr 2015 weitergeht, dann durch afghanische Ausbilder, Ende 2013 werden nur noch rund 130 deutsche Polizisten in Afghanistan sein.

Die Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte ist schwierig. So sehen manche Ausbildungsstätten schon wenige Wochen danach heruntergekommen aus. Die Bundesregierung und andere Geberstaaten beteuern, es gebe Grund für Optimismus in Afghanistan. Währenddessen versuchen viele Afghanen, unter ihnen Polizisten und Mitarbeiter des deutschen Polizeiprogramms wie Dolmetscher, das Land zu verlassen. Die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg oder der Machtübernahme der Taliban ist groß. 

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erschienen in Ausgabe 11 / 2013: Kriminalität
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