Vorweg: Ich teile die in der Studie „Bildung für nachhaltige Ungleichheit“ geübte Kritik nicht in allen Punkten. Aber wer das Papier von GLOKAL nicht gelesen hat, wird durch den Beitrag von Georg Krämer ein verfälschtes Bild davon bekommen – und möglicherweise auch von der mit ihr verbundenen, auf den postkolonialen Studien aufbauenden Position gegenüber der Entwicklungspolitik.
Krämers erste Behauptung lautet, die Studie teile die Welt auf „rassistische“ Weise in einen globalen Norden und Süden, in böse Weiße und gute Schwarze auf und verschließe somit die Augen vor den Verbrechen, zum Beispiel der Warlords im Kongo und anderen Ländern des Südens. Tatsächlich aber definiert die Studie den globalen Süden als den im globalen System gesellschaftlich, politisch und ökonomisch benachteiligten Teil der Weltbevölkerung, und zwar unabhängig von Geographie oder Hautfarbe. Den globalen Norden definiert sie analog als privilegierten Teil. Dass die Mehrzahl der Privilegierten im Weltsystem immer noch weiß ist, ist kein Zufall, sondern zu einem gewichtigen Teil Resultat von vier Jahrhunderten europäischem Kolonialismus. Dass es auch nichtweiße Privilegierte gibt, entkräftet diesen Zusammenhang nicht.
Autor
Aram Ziai
ist Politik- wissenschaftler, Privatdozent an der Universität Kassel und Mitglied der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO).Rassismus, der Fokus der Studie, wird allerdings als verschränkt mit anderen Herrschaftssystemen gesehen, die unter anderem über Geschlecht und Klasse funktionieren. Den Autoren geht es also nicht nur um Hautfarben, sondern um eine umfassende Herrschaftskritik. Mag sein, dass in den 1970ern verirrte Linke das völkermörderische Regime der Roten Khmer in Schutz nahmen – gegenüber den Autoren und Autorinnen der Studie ist der Vorwurf, Kriegsverbrecher zu entschuldigen, absurd.
Die zweite Behauptung lautet, es werde in der Studie verboten, von unterschiedlichen Kulturen oder Hautfarben zu reden, weil das rassistisch sei. Auch das trifft nicht zu. Allerdings ist sich die Rassismusforschung einig, dass ein statischer Kulturbegriff („die sind nun mal so und so“) heute oft die Rolle einnimmt, die früher das Konstrukt „Rasse“ hatte. Deswegen spricht die Forschung und auch die Studie von „Rassialisierung“ („Die Afrikaner können gut trommeln ...“) und erst dann von Rassismus, wenn Machtverhältnisse im Spiel sind – wenn also Ungleichheit mit rassistischen Kategorien erklärt oder legitimiert wird („... aber sie sind auch faul und deswegen immer noch arm“). Wenn man die letzte Aussage als bloße Feststellung einer Tatsache empfindet, dann kann man den Vorwurf des Rassismus natürlich als Denkverbot empfinden. Aber auch nur dann.
Krämers dritte Behauptung, die postkoloniale, antirassistische Position lehne Menschenrechte und Universalismus ab und plädiere für Nichteinmischung im Süden, ist ebenfalls verzerrend. Zwar gibt es – nicht in der strittigen Studie – durchaus vereinzelt kulturrelativistische Positionen, die die universelle Geltung der UN-Menschenrechtserklärung ablehnen. Doch sie tun dies auf der Grundlage eines universellen Menschenrechts auf Selbstbestimmung: Menschen dürfen selbst bestimmen, welche Rechte für sie gelten sollen.
Gemeinsamer Nenner einer postkolonialen Position hingegen ist die Ablehnung der europäischen Anmaßung, universelle Normen definieren zu dürfen. Diese Anmaßung steht in der jahrhundertealten kolonialen Tradition Europas, sich selbst an der Spitze des Menschheitsfortschritts zu sehen und daraus das Recht und die Pflicht abzuleiten, die Anderen zu erziehen – mit Waffen, Sanktionen oder Entwicklungsprojekten. Die Kritik daran ist jedoch nicht notwendigerweise ein Einmischungsverbot. Tatsächlich stammen viele antirassistisch Engagierte aus der Solidaritätsbewegung und unterstützen keinesfalls Diktatoren, sondern widerständige soziale Bewegungen. Und auch Kritik an „humanitären Interventionen“ des Westens bedeutet keineswegs Parteinahme für etwa die Taliban und ist auch kein Ausdruck eines „Schuldkomplexes“, wie Krämer meint.
In allen drei Punkten polemisiert der Beitrag von Georg Krämer mithin am Ziel vorbei: Die kritisierten Positionen wurden in dieser Form nirgends vertreten. Aber woher kommt diese verzerrte Wahrnehmung? Wenn Krämer doch die Kernthese der Studie akzeptiert, dass eurozentrische, andere Völker und Kulturen abwertende Denkmuster (er vermeidet den Begriff „rassistisch“) auch heute in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit vorhanden sind, warum diffamiert er diese Kritik dann als „totale Ideologie“?
Rassismus fängt nicht erst dort an, wo der Hitlergruß gezeigt wird
Sicher spielen dafür theoretische und politische Differenzen eine Rolle. Aber, so meine These, daneben ist hier ein Abwehrreflex am Werk, der nur allzu häufig bei in der Entwicklungspolitik tätigen Menschen anzutreffen ist. Diese Tätigkeit ist oft mit einem hohen moralischen Anspruch und einem entsprechenden Selbstbild verknüpft: „Während den meisten Menschen hier Armut und Elend anderswo auf der Welt egal sind, engagiere ich mich dagegen.“ Umso empfindlicher reagieren die Leute, wenn ihre moralische Position und ihr Tätigkeitsfeld infrage gestellt werden. Erst recht, wenn der Rassismusbegriff im Spiel ist. Mit Rassisten in einen Topf geworfen zu werden, erscheint aus liberaler oder gar linker Perspektive als unglaubliche Verleumdung.
Dabei ist dies zunächst eine Definitionsfrage: Der Rassismusbegriff ist in der Forschung deutlich weiter gefasst als in der Alltagssprache. Rassismus fängt nicht erst dort an, wo der Hitlergruß gezeigt wird, sondern drückt sich im Alltag weit subtiler und oft unbewusst aus – und zwar durchaus auch in der Entwicklungspolitik und bei Leuten, die Rassismus verabscheuen. Historisch fing die „Entwicklung der Unterentwickelten“ genau dort an, wo die „Zivilisierung der Unzivilisierten“ aufhörte, und baute auf den gleichen Zuschreibungen und Stereotypen auf: Die Anderen sind weniger demokratisch, weniger aufgeklärt, weniger rational, weniger produktiv, und wir müssen ihnen zeigen, wie das geht mit dem Fortschritt. Die eigene Gesellschaft stellt die unhinterfragte Norm dar, von der die anderen lernen sollen. Der Ökonom Philipp Lepenies bezeichnet Entwicklungszusammenarbeit daher als „institutionalisierte Besserwisserei“.
Spuren des kolonialen Erbes finden sich auch in der heutigen Entwicklungszusammenarbeit: in undifferenzierten Erklärungen, „die Afrikaner“ seien selber schuld an ihrer Misere, nicht etwa vom Westen unterstützte Herrschercliquen; in der Verwirrung, die dunkelhäutige Berater und hellhäutige Zielgruppen hervorrufen; in der Selbstverständlichkeit, mit der unqualifizierte Weiße im Süden angeblich „Entwicklungshilfe“ leisten; in der Ignoranz gegenüber indigenem Wissen; in der Bevölkerungspolitik, die nichtweiße Kinder als Bedrohung darstellt (obwohl die weißen immer noch ein Vielfaches an Ressourcen verbrauchen); und sogar wieder – Dirk Niebel sei Dank – in der Plakatwerbung des Entwicklungsministeriums, die den Menschen in Afrika, die offenbar alle in Buschhütten leben, Hilfe in Form von elektronischer Weihnachtsbeleuchtung verspricht: Wir bringen Licht ins Dunkel Afrikas. Theo Rauch sprach mit Blick auf dieses Plakat zutreffend von einem „Rückfall in die Steinzeit der Entwicklungspolitik“.
Spuren dieses kolonialen Erbes finden sich nicht zuletzt auch bei Georg Krämer, der ungeachtet aller historischer Tatsachen – von der buddhistischen Philosophie bis hin zu direktdemokratisch organisierten indigenen Gemeinschaften – den Schutz der Menschenwürde und die Ideale der Aufklärung als europäische Besonderheit reklamiert.
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