Als junger Journalist kam ich im April 1982 nach Nicaragua, knapp drei Jahre nachdem die Sandinisten die Somoza-Diktatur gestürzt und die Macht übernommen hatten. Kurz vor meiner Einreise hatten die Sandinisten die indianische Bevölkerung, die am Grenzfluss Rio Coco lebte, 60 Kilometer ins Landesinnere umgesiedelt. „Tasba Pri“– freies Land – hieß die neue Siedlung in der Sprache der Miskito. Doch die meisten von ihnen fühlten sich alles andere als frei. Gegen ihren Willen mussten sie ihren angestammten Lebensraum verlassen. Die früheren Fischer waren plötzlich Almosenempfänger einer Regierung, die beteuerte, nur in deren Interesse gehandelt zu haben. Die antisandinistische Grundstimmung an der Atlantikküste erhielt neue Nahrung. US-Präsident Ronald Reagan, der glaubte, den Weltkommunismus auch in Nicaragua bekämpfen zu müssen, fand die verwundbarste Flanke der populären Sozialrevolutionäre und investierte in den Aufbau einer indianischen Konterrevolution.
Autor
Ralf Leonhard
war bis zu seinem plötzlichen Tod im Mai 2023 freier Journalist in Wien und ständiger Korrespondent von "welt-sichten".Die Sandinisten begründeten die Umsiedlung der 42 Gemeinden mit den Übergriffen konterrevolutionärer Gruppen – „Contras“ – aus dem benachbarten Honduras. Die Bevölkerung in den Grenzdörfern sollte geschützt und daran gehindert werden, zum Feind überzulaufen. Für die Solidaritätsbewegung wurde Tasba Pri zum ersten großen Prüfstein, an dem sich zwei Tendenzen herausbildeten: die bedingungslose und die kritische Solidarität. Bedingungslos treue Anhänger der Sandinistischen Revolution waren überzeugt, dass es solidarischen Ausländern nicht zustehe, die Handlungen der Kommandanten in Frage zu stellen. Diese wüssten schon am besten, was richtig sei. Angesichts der unbestreitbaren Aggression der US-Regierung sei Kritik an Details der sandinistischen Politik nicht angebracht: Wer nicht für die Revolution sei, der gehöre ins Lager der „Contras“.
Die kritische Solidarität wollte ein solches Schwarz-Weiß-Denken nicht akzeptieren und sich auch von den traditionellen Freundschaftsgesellschaften unterscheiden, die nur Kontakte zur Regierung und Wirtschaftskreisen pflegen. Wer mit einer Sache sympathisiere, habe die Pflicht, solidarische Kritik zu üben. Barbara Lucas, langjährige Leiterin der bundesdeutschen Solidarität, schreibt in einem 2008 erschienenen Buch: „Wir sahen es als unsere Aufgabe an, parteilich aber kritisch über die Revolution zu informieren und sie zu unterstützen.“ Gerade die undogmatische Linke in Deutschland hatte sich nicht mühsam gegen den Sozialismus der DDR abgegrenzt, um nun blind den Irrungen eines Tropensozialismus hinterher zu hecheln. Das war auch die Position der Berliner „tageszeitung“ (taz), die schon seit dem Volksaufstand gegen die Somoza-Diktatur mit Korrespondenten im Lande vertreten war und sich dann mit mir bis Mitte der 1990er Jahre einen ständigen Mitarbeiter in Managua leistete.
Erfahrene Ethnologen sahen das Unheil an der Atlantikküste kommen. Denn die Comandantes in Managua erwiesen sich als beratungsresistent. Sie wollten nicht hören, dass die indianischen und afrokaribischen Völker eine andere Geschichte hatten als die mestizische Bevölkerung am Pazifik. Die wenigsten sprachen Spanisch oder interessierten sich für die Vorgänge im Westteil des Landes. Nach der britischen Kolonisierung standen an der „Costa“ viele im Dienste US-amerikanischer Bergbaukonzerne oder tauchten für internationale Fischereiunternehmen nach Shrimps und Langusten. Mit der revolutionären Rhetorik und der Eingliederung in Massenorganisationen konnten sie wenig anfangen. Konflikte waren programmiert und ein lange geleugnetes Massaker sandinistischer Militärs an 80 Miskitos im Dezember 1981 führte zum endgültigen Bruch.
Rückblickend betrachtet publizierten wir fahrlässig wenig über die Verbrechen der Revolutionäre. Sie machten es allerdings mit einer Nachrichtensperre und der Militarisierung der Atlantikküste auch fast unmöglich, Informationen durch unabhängige Quellen zu verifizieren. Wer wollte schon der Propaganda der USA glauben, die die Sandinisten über ihre Medien in Zentralamerika als stalinistisches Terrorregime erscheinen ließen? Wer in Nicaragua lebte, wusste es besser. Und anders als die diktatorischen Regimes in El Salvador und Guatemala, die Journalisten als Feinde behandelten, verstanden es die Sandinisten, die Berichterstattung auf sanfte Weise zu beeinflussen.
Die Solidarität mit Nicaragua rekrutierte sich aus verschiedenen Lagern. Da waren nicht nur die Veteranen, die schon auf Brigade in Kuba waren und für das sozialistische Experiment Salvador Allendes in Chile Pamphlete verfasst hatten, sondern auch Leute aus der Friedensbewegung und Aktivisten aus kirchlichen Kreisen. Nicaragua sprach fast alle an. Besonders stark war dank dem Dichterpriester Ernesto Cardenal die christliche Komponente. Er verstand es, die Lehren des Neuen Testaments mit marxistischen Idealen zu verschmelzen. Das brachte nicht nur dialektisch denkende Bauern, sondern auch furchtlose Guerilleros hervor.
Auch in El Salvador gab es basischristliche Bewegungen, die sich aufgrund der Repression dazu gezwungen sahen, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Anders als die Nicaragua-Solidarität, die sich vor allem entlang der Linientreue gegenüber den Sandinisten differenzierte, spaltete sich die El-Salvador-Bewegung in Deutschland in mehrere Gruppen auf. Jede der fünf Guerillagruppen hatte ihre eigene Solidaritätsszene aufgebaut und betrieb eigene Medien in Europa. Die von der „taz“ ins Leben gerufene und höchst kontrovers diskutierte Waffensammlung für die salvadorianische Revolution war mit entscheidend dafür, dass sich die fünf Gruppen zur Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) zusammenschlossen und zumindest nach außen geeint auftraten. Die „taz“ genoss deshalb den Respekt der deutschen Solidaritätsszene. Berichte über El Salvador wurden weit weniger kritisiert als solche über Nicaragua.
Nicaragua war in der Bundesrepublik jahrelang auch Teil der Innenpolitik. Die von Helmut Kohl geführte Bundesregierung fror Wirtschaftshilfen ein, die noch in der Zeit Somozas bewilligt worden waren. Während Sozialdemokraten und Grüne sich für die Revolution stark machten, folgten die Unionsparteien und die FDP dem Kurs der USA. Später fungierten sogar prominente Politiker als Berater bei den Friedensverhandlungen: Hans-Jürgen Wischnewski (SPD) auf Seiten der Sandinisten und der CDU-Abgeordnete Heribert Scharrenbroich bei den „Contras“. Entsprechend war auch die Presselandschaft gespalten. Von der Springer-Presse und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) erwartete die Solidaritätsbewegung keine pro-sandinistische Berichterstattung.
Mit der Wahlschlappe der Sandinisten 1990 zerfiel die Solidaritätsbewegung in unzählige Gruppen
Die „taz“ hingegen wurde von vielen als Zentralorgan der Solidarität missverstanden. Jeder kritische Bericht löste eine Welle von Leserbriefen aus. Als „taz“-Korrespondent für Zentralamerika wurde ich für einen Teil der deutschen Kolonie in Nicaragua zeitweise zur Unperson. Einige mieden jeden Kontakt mit mir. Besonders kirchliche Kreise taten sich durch bedingungslose Linientreue hervor. Sie duldeten kein Wort der Kritik an einem Regime, das unter zunehmendem militärischem und wirtschaftlichem Druck immer intoleranter gegen jede Form der Opposition vorging. So wurde eine Streikbewegung, die aus rein wirtschaftlichen Gründen entstanden war, sofort als konterrevolutionäre Verschwörung diffamiert.
Zur Ehrenrettung der Sandinisten ist zu sagen, dass sie nie versuchten, auf meine Berichterstattung Einfluss zu nehmen. Anders dagegen die solidaritätsbewegten Deutschen, die sich in Managua regelmäßig trafen, um Informationen aus den einzelnen Regionen auszutauschen und über Presseberichte zu Gericht zu sitzen. „Internationalistentribunal“ nannte ein Kollege diese Veranstaltung. Die „taz“ saß dort immer wieder – virtuell – auf der Anklagebank. Da ging es um Kritik an der Umsiedlungspolitik im Landesinneren, Pressezensur, Rekrutierungsmethoden für den „Patriotischen“ Wehrdienst oder die Darstellung von Brigaden-Einsätzen im Kriegsgebiet.
In Erklärungsnotstand gerieten die Puristen, als die Sandinisten selbst spektakuläre Kehrtwendungen vollzogen. So gestand Innenminister Tomás Borge 1985 Fehler bei der Politik an der Atlantikküste ein und bahnte einen Sonderfrieden mit den indianischen „Contras“ an. Flexibilität bewiesen die Comandantes wenige Jahre später auch, als sie unter internationalem Druck Verhandlungen mit den „Contras“ aufnahmen. Die „somozistischen Bestien“ mutierten im öffentlichen Diskurs plötzlich zu „den Herren vom Widerstand“. Für die Teile der Solidaritätsbewegung, die die Wortwahl der Sandinisten kopiert hatten, war das schwer zu verdauen.
Mit der Wahlschlappe der Sandinisten im Jahre 1990 zerfiel die Solidaritätsbewegung in unzählige Gruppen. Sie kooperierten weiter über Städtepartnerschaften mit den letzten Bollwerken sandinistischer Macht, schickten Brigaden ins Land oder förderten einzelne Gemeinden mit Entwicklungsprojekten. Zu einer schweren Belastungsprobe wurde, dass Ex-Präsident Daniel Ortega von der eigenen Stieftochter des Missbrauchs beschuldigt wurde. Ortega nahm dazu zwar nie inhaltlich Stellung, sorgte aber durch einen Pakt mit dem reaktionären Präsidenten Arnoldo Alemán für einen politisch-juristischen Burgfrieden, der ihm Straffreiheit bescheren sollte. Auch die Sandinistische Front (FSLN) hatte sich nach den Wahlen gespalten. Die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) bot eine Alternative vor allem für die städtischen Intellektuellen und Künstler, wurde aber nie zu einer Massenbewegung, die die Machtfrage hätte stellen können. Für den feministischen Teil der Solidaritätsbewegung war nach der Missbrauchsaffäre der Bruch mit dem orthodoxen Sandinismus nicht mehr rückgängig zu machen. Zumal Ortega 2006 seine Partei anwies, kurz vor den Präsidentschaftswahlen ein ausnahmsloses Abtreibungsverbot im Parlament durchzudrücken. Davon erwartete man sich den Segen der katholischen Kirche, die bis dahin stets kaum verhüllte Wahlempfehlungen für die Gegner der Sandinisten abgegeben hatte. Der Plan ging auf. Doch Ortega und sein Teil der FSLN stellten sich mit diesem Manöver endgültig in die Tradition der populistischen und prinzipienlosen Führerparteien, die die Geschichte Lateinamerikas immer wieder bestimmt haben.
Im November 2006 (und erneut 2011) wurde Daniel Ortega wieder zum Präsidenten gewählt. Seitdem haben sich innerhalb der noch verbliebenen Solidarität neue Gräben aufgetan. Gegen Kritik am autoritären Führungsstil wird oft das Totschlagsargument gebracht: „Willst Du etwa, dass wieder die Liberalen regieren?“ Der Lateinamerikanist Günter Pohl argumentiert differenzierter und verweist auf die teilweise erfolgreichen Sozialprogramme: „Alphabetisierung mit über 54.000 Freiwilligen, Entprivatisierung des Bildungswesens, Kostenfreiheit des Gesundheitswesens, Wiedereinführung der Sozialversicherung.“ Die sogenannten Bürgerbeteiligungskomitees CPC, die als Instrument der Regierungspartei die kommunalen Strukturen entmachten, sieht er als „erneuerte Idee direkter Demokratie“. Die außenpolitische Ausrichtung nach Venezuela sei eine entwicklungspolitische Alternative.
Über all das wird bei den – immer seltener werdenden – Solidaritäts-Veranstaltungen heftig diskutiert. Doch selbst wenn größere Treffen heute rar sind: Allein die Tatsache, dass nach mehr als 30 Jahren noch immer eine aktive und vielgestaltige Nicaragua-Bewegung besteht, ist ein Phänomen. Sie hat im Laufe der Zeit über Brigaden-Einsätze mehr als 15.000 Deutsche in das Land in Zentralamerika gebracht. Und sie hat es geschafft, dass sich mehrere Generationen mit dem wechselvollen Schicksal eines kleinen Volkes identifizieren.
Unser Autor Ralf Leonhard hat von 1982 bis 1996 in Nicaragua gelebt und für die Tageszeitung „taz“ aus Zentralamerika berichtet.
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