Kein anderes Land der Welt hat im vergangenen Jahrzehnt so viele Sozialprogramme aufgelegt wie Venezuela. Im Rahmen sogenannter „Misiones“ wurden Tausende Gesundheitsposten errichtet, Ernährungs- und Bildungsprogramme verwirklicht, der Nahverkehr ausgebaut, die Trinkwasserversorgung in den Armenvierteln verbessert und Zehntausende von Sozialwohnungen gebaut. Doch wie tiefgreifend hat diese Politik das Leben der Armen tatsächlich verändert? Und wie wird es mit den Programmen nach dem Tod von Hugo Chávez weitergehen?
Autor
Raul Zelik
ist Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens. Er hat zuletzt den Diskussionsband „Andere mögliche Welten“ (VSA-Verlag, mit A. Tauss) und den Roman „Der Eindringling“ (Edition Suhrkamp) veröffentlicht. (Foto: S. Schleyer)Bis in die 1970er Jahre war das erdölreiche Venezuela die große Ausnahme in Lateinamerika. Um die Bevölkerung als Wählerklientel an sich zu binden, finanzierten die sozial- und christdemokratischen Regierungen Lebensmittelsubventionen und Sozialprogramme. Doch die lateinamerikanische Schuldenkrise stellte die Verhältnisse ab 1980 auch in Venezuela auf den Kopf. Sinkende Ölpreise und der Anstieg des internationalen Zinsniveaus führten das Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Wie derzeit in Südeuropa zwang der Internationale Währungsfonds (IWF) der Bevölkerung drastische Sparmaßnahmen auf. Die Währung stabilisierte sich, der Lebensstandard sank. Als Reaktion kam es 1989 zu einer Armutsrevolte, 1992 folgten Putschversuche linksnationalistischer Militärs, die Venezuela für ein Jahrzehnt faktisch unregierbar machten. Doch obwohl die soziale Krise dem überraschenden Wahlsieg von Hugo Chávez 1998 den Weg bereitete, stand die Sozialpolitik auch unter ihm zunächst nicht im Mittelpunkt. Bis 2003 galt das Hauptinteresse der Regierung einer stärkeren Kontrolle des staatlichen Ölkonzerns PDVSA und einer neuen Verfassung. Erst 2002, als die bürgerliche Opposition Chávez zwei Mal mit Gewalt zu stürzen versuchte und die ärmere Bevölkerung den Präsidenten mit spontanen Demonstrationen verteidigte, gewann die Sozialpolitik an Bedeutung. Chávez begriff, dass er Veränderungen nur durchsetzen würde, wenn er die Unterschichten aktiv beteiligte.
Die ersten „Misiones“ – das Gesundheitsprogramm „Barrio Adentro“, die Alphabetisierungskampagne „Robinson“ und das Ausbildungsprogramm „Ribas“ – hatten deshalb zunächst das Ziel, die Bevölkerung zu mobilisieren. Anders als der traditionelle Populismus, der die Unterschichten auf eine Rolle als passiver Empfänger von Fürsorgeleistungen festzulegen versucht, förderten die chavistischen Sozialprogramme Selbstorganisierung und Eigeninitiative.
Das war zugleich eine Reaktion auf die Machtverhältnisse im Land. Die Beamtenschaft folgte den Anordnungen der Regierung oft nicht, es fehlte an Fachpersonal, und die parlamentarische Mehrheit der Regierung war fragil. Vor diesem Hintergrund regierte Chávez am Staat vorbei – eine Praxis, die in Venezuela häufig auch als „Bypass“ bezeichnet wurde. Die Finanzmittel wurden direkt vom Ölkonzern PDVSA bereitgestellt, vor Ort waren nicht Staatsangestellte, sondern Mitglieder von Basisorganisationen für die Umsetzung der Sozialprogramme zuständig.
Heute existiert nur noch ein kleiner Teil der einst gegründeten Betriebe
Auf diese Weise wurde die neue Sozialpolitik in den Armenvierteln als gesellschaftliches Anliegen verstanden. Im Rahmen des Gesundheitsprogramms „Barrio Adentro“ mussten sich die Nachbarschaften verpflichten, die aus Kuba kommenden Ärzte aufzunehmen und zu unterstützen. Die Armenviertel kamen also nur in den Genuss der Sozialprogramme, wenn sie sich aktiv beteiligten, indem sie Gesundheitskomitees gründeten, für die Unterbringung des ausländischen Arztes sorgten und ihn bei der täglichen Arbeit unterstützten.
Auch das Ausbildungsprogramm „Ribas“, das Zehntausende Schulabgänger zur Hochschulreife führte, beruhte auf der aktiven Beteiligung der Betroffenen. Da nicht ausreichend Lehrer zur Verfügung standen, konzentrierte sich die Regierung darauf, technische Geräte und Unterrichts-CDs zu liefern. Die Stadtteilorganisationen organisierten im Gegenzug Klassenräume und bestimmten Verantwortliche für den Unterricht, so genannte „Facilitadores“.
Auf diese Weise war die chavistische Sozialpolitik zunächst zwar improvisiert, brach gleichzeitig aber mit der klassischen Fürsorgeperspektive. Zehntausende Menschen – in der Mehrzahl Frauen über 40 Jahre – übernahmen Verantwortung und organisierten sich in Basisgruppen. Darüber hinaus wirkten die „Misiones“ international: Mit der Einbindung kubanischer Fachkräfte trieb die Chávez-Regierung eine lateinamerikanische Wirtschaftsintegration jenseits des Weltmarkts voran. Das rohstoffarme Kuba tauschte Know-how gegen Erdöl. Das kam nicht nur der Regierung in Havanna zugute, sondern – trotz des bescheidenen Lohns – auch den kubanischen Ärzten, die auf diese Weise ins Ausland reisen konnten.
Trotzdem waren die Sozialprogramme mit großen Schwierigkeiten verbunden. Das Gesundheitsprogramm „Barrio Adentro“ kann zwar im Rückblick als Erfolg gelten: Alle Armenviertel verfügen heute über Gesundheitsposten für die medizinische Erstversorgung. Doch bei den Bildungsprogrammen fällt die Bilanz schon zwiespältiger aus. Von den Hunderttausenden, die sich zunächst am Bildungsprogramm „Ribas“ beteiligten, schaffte nur eine kleine Minderheit die Hochschulreife. Die Abbrecherquote war hoch.
Ähnlich verlief die Entwicklung beim Berufsförderprogramm „Vuelvan Caras“, in dessen Rahmen ab 2005 Zehntausende Venezolanerinnen und Venezolaner in produzierenden Berufen ausgebildet wurden. Mit der Kampagne wollte die Chávez-Regierung einen genossenschaftlich geprägten Beschäftigungssektor aufbauen. Doch obwohl viel Geld investiert wurde, um die Ausbildungsbetriebe in selbstständig arbeitende Kooperativen zu verwandeln, existiert heute nur noch ein kleiner Teil der damals gegründeten Betriebe.
Kritiker meinen, es sei kein Kunststück, mit Öleinnahmen Sozialprogramme zu finanzieren
Vor diesem Hintergrund ging man nach der Wiederwahl von Chávez 2006 dazu über, die Sozialprogramme erneut zu institutionalisieren. Insgesamt hat es bis heute 30 Einzelmissionen gegeben; praktisch kein Bereich des gesellschaftlichen Lebens blieb unberührt: Im Rahmen der „Misión Mercal“ wurden im ganzen Land Supermärkte errichtet, in denen Grundnahrungsprodukte zu subventionierten Preisen angeboten werden. Dank der Gesundheitsprogramme „Sonrisa“ und „Milagro“ wurden Zehntausende Menschen zahn- und augenärztlich behandelt. Es gibt Programme zur Förderung von Musik, Wissenschaft, Breitensport und indigener Selbstverwaltung, Missionen für Obdachlose und Rentner sowie ein gewaltiges Wohnungsbauprogramm, die „Gran Misión Vivienda“.
Kritiker wenden häufig ein, dass es kein Kunststück sei, mit Öleinnahmen Sozialprogramme zu finanzieren. Doch dabei wird unterschlagen, dass die Regierung die Kontrolle über den Staatskonzern PDVSA gegen den heftigen Widerstand der bürgerlichen Opposition durchsetzen musste. Ihrer Entschlossenheit ist es zu verdanken, dass die Öleinnahmen heute wieder an den Staat abgeführt werden. Knapp 40 Milliarden US-Dollar hat PDVSA laut eigenen Angaben allein 2011 für die Sozialprogramme bereitgestellt.
Die Chávez-Regierung hat die Armut im Land aber nicht nur mit Sozialprogrammen bekämpft, sondern zugleich auch Hunderttausende regulärer Beschäftigungsverhältnisse im Staat geschaffen. Das hat die Effizienz der Verwaltung zwar nicht erhöht, aber die Lebenssituation der Beschäftigten verbessert: Lag die Arbeitslosenquote zwischen 2000 bis 2008 durchschnittlich bei 12,7 Prozent, so waren es 2010 trotz der weltweiten Finanzkrise nur noch 8,6 Prozent, ein Rückgang um ein Drittel. Auch die Armutsquote fiel deutlich: zwischen 2002 und 2010 um rund ein Fünftel. Nur in Argentinien, das 2001 einen Finanzkollaps erlitten hatte, und im Wirtschaftswunderland Peru ging die Armutsquote noch stärker zurück – um 36,8 und 23,4 Prozent.
Die Statistiken der Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL verweisen zudem auf eine weitere Besonderheit Venezuelas: Der Rückgang der Armut ist in dem Karibikland weniger dem Wirtschaftswachstum als Umverteilungsmaßnahmen zu verdanken. Das heißt die Regierung bekämpft auch die soziale Ungleichheit. Ein Maß für die Verteilungsgerechtigkeit ist der Gini-Koeffizient; er liegt zwischen 0 und 1, wobei 0 völlig Gleichverteilung bedeutet und 1, dass eine einzige Person das gesamte Einkommen erhält. Venezuela ist mit einem Gini von 0,39 heute das lateinamerikanische Land mit der geringsten Einkommensungleichheit. In Brasilien, immerhin seit einem Jahrzehnt sozialdemokratisch regiert, liegt der Koeffizient nach wie vor bei etwa 0,55.
Maduros Spielräume sind kleiner, das Geld wird knapper
Die These, dass die venezolanischen Sozialprogramme aufgrund der wuchernden Korruption einfach verpuffen, lässt sich also nicht halten. Die chavistische Sozialpolitik hat die Verhältnisse sichtbar verbessert. Der augenfälligste Beweis ist das Verschwinden der Straßenarmut. Der Vergleich mit dem wirtschaftlich prosperierenden Nachbarland Kolumbien, wo Zehntausende auf den Straßen der Großstädte vegetieren, spricht Bände. Trotzdem ist unklar, wie nachhaltig die Veränderungen in Venezuela sein werden. Gerade die Programme, mit denen das Land eine eigene Produktion aufbauen und die Abhängigkeit vom Öl verringern wollte, haben wenig Wirkung entfaltet. Das staatliche Nahrungsmittelprogramm PDVAL wurde 2010 von einem großen Korruptionsskandal erschüttert. Verantwortliche hatten Tonnen von Nahrungsmitteln unterschlagen. Die Sozialprogramme bieten der Staatsbürokratie viele Chancen, beim Einkauf von Lebensmitteln, Medikamenten und Baumaterialien im Ausland Geld beiseite zu schaffen.
Die Stärkung des Staates, die so wichtig war, um Venezuelas Reichtum umverteilen zu können, erweist sich zunehmend als zweischneidiges Schwert. Die Rückkehr der Sozialprogramme in den Staatsapparat, mit der Planbarkeit und Wirkung verbessert werden sollten, hat vor allem die Bürokratie gestärkt, die eine klassische Wohlfahrtspolitik bevorzugt. In der Wohnungsbaupolitik zeigt sich dieser Widerspruch besonders deutlich: Während das Ministerium gemeinsam mit lateinamerikanischen Baukonzernen Sozialsiedlungen aus dem Boden stampft, streben Betroffene nach Selbstverwaltung.
Mit den „Campamentos de Pioneros“ ist eine Bewegung entstanden, die – angelehnt an die brasilianische Landlosen-Organisation MST – neue Sozialbeziehungen von unten aufbauen will. Sie fordert vom Staat Finanzhilfen zum Bau der Wohnanlagen, organisiert Planung und Bau aber selbst. Das Ministerium verfolgt diese Bewegung, die Hunderte von Baugrundstücken im ganzen Land besetzt und in Gemeinbesitz überführt hat, mit Argusaugen. Schließlich macht sie den Apparat teilweise überflüssig.
Chávez, der selbst aus einfachen Verhältnissen stammte, war gegenüber solchen Basisinitiativen immer aufgeschlossen und nutzte seine Machtfülle, um Sonderfonds bereitzustellen. Ob sein Nachfolger Nicolás Maduro diese Politik fortsetzen wird, steht in den Sternen. Seine politischen Spielräume sind kleiner, und das Geld wird knapper. Auf dem Schwarzmarkt befindet sich die venezolanische Währung, der „Bolívar“, im freien Fall, und ohne Chávez droht sich die Korruption noch weiter auszubreiten.
Die einzige denkbare Lösung wäre eine Ermächtigung von unten, die den gestärkten Staat unter gesellschaftliche Kontrolle bringt. Mit dem Aufbau von Nachbarschaftsräten (Consejos Comunales) hat sich die Regierung eigentlich genau das auf die Fahnen geschrieben. Doch eine echte Demokratisierung von unten ist für die fragile Balance im Chavismus auch eine Bedrohung. Es ist eine neue politische Elite entstanden, die den Chavismus in erster Linie unterstützt, weil sie sich auf diese Weise erfolgreich im Staat bereichern kann. Doch auch wenn der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela scheitern sollte – die Wende unter Chávez war für die Armen in Venezuela ein Segen: Bildung, Gesundheit, Nahverkehr, Trinkwasser sind in dem südamerikanischen Land heute wieder öffentliche Güter. Hunderte Millionen Menschen in Lateinamerika und anderswo können davon nur träumen.
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