Öde Landschaften

Die kommerzielle Pflanzen- und Tierzüchtung zerstört die biologische Vielfalt

Vor allem in Entwicklungsländern schwindet die Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten in der Landwirtschaft. Häufig fehlen ökonomische Anreize für ihren Erhalt, während die Einfuhr von Hochleistungssorten oder die Ausweitung von Monokulturen gefördert wird. Dabei hängt das Überleben von Millionen Menschen von lokal angepassten Nutzpflanzensorten und Tierrassen ab. Mit ihrer Hilfe können sie auch unter schwierigen ökologischen Bedingungen ihre Existenz sichern.

Sechshundert verschiedene Apfelsorten, tausend Erdbeersorten, mindestens ebenso viele rote und schwarze Johannisbeersorten und hunderte andere Obstsorten wachsen auf dem Gelände der Pawlowsk-Station im russischen St. Petersburg. Sie gehört zum Wawilow-Institut, einer der größten Genbanken der Welt. Dieser Schatz ist akut bedroht: Statt seltener, nur noch hier zu findender Obstsorten sollen in Zukunft Luxuswohnungen auf dem 70 Hektar großen Gelände stehen. Das Vorhaben hat weltweite Proteste ausgelöst. Gestoppt werden kann es nur noch von Präsident Dimitrij Medwedew. Würden die Wohnungen gebaut, dann wäre dieser Schatz aus der Vergangenheit für die Menschheit unwiederbringlich verloren. Denn eine Umsiedlung der Bäume und Sträucher an einen anderen Standort würde Jahre dauern, und so viel Zeit hat das Projekt nicht mehr.

Autoren

Annette von Lossau

ist Beraterin für den Bereich Agrobiodiversität bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Eschborn.

Beate Wörner

ist freie Journalistin in Stuttgart mit den Schwerpunkten Landwirtschaft und Entwicklungspolitik.


Normalerweise vollzieht sich der Verlust von Nutzpflanzensorten und Nutztierassen in aller Stille. Beispielsweise wuchsen 1949 auf den chinesischen Feldern noch 10.000 verschiedene Weizensorten, knapp 30 Jahre später war es nur noch ein Zehntel. In den Vereinigten Staaten gingen im 20. Jahrhundert mehr als 6000 Apfelsorten verloren, das waren 86 Prozent des gesamten US-amerikanischen Sortenbestandes. Und das sind keine Einzelbeispiele. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind drei Viertel der Kulturpflanzen weltweit unwiederbringlich verschwunden, ebenso 690 Nutztierrassen – ein Fünftel unserer landwirtschaftlichen Nutztiere ist vom Aussterben bedroht. In den Industrieländern hat sich die so genannte Generosion inzwischen verlangsamt. Heute findet sie überwiegend in den Entwicklungsländern statt, vor allem in tropischen Regionen mit ursprünglich sehr hoher biologischer Vielfalt. Die landwirtschaftliche Biodiversität – sie umfasst die in der Landwirtschaft genutzten oder nutzbaren Arten, Sorten und Rassen – ist aber die Voraussetzung einer produktiven, effizienten und nachhaltigen Landwirtschaft.

Um die heute vorhandene Agrobiodiversität zu schaffen, brauchte es tausende von Jahren. Seit es Landwirtschaft gibt, haben Bäuerinnen und Bauern Nutzpflanzen und Haustiere gezüchtet und hoch entwickelte Landnutzungssysteme geschaffen. Aus mehr als 10.000 Pflanzenarten entstand so im Lauf der Zeit eine Fülle von Kulturpflanzen, angepasst an spezielle lokale Anforderungen und Bedürfnisse. Ähnliche Entwicklungen fanden bei der Domestizierung und Züchtung von Haustieren statt: Aus über 40 Tierarten schufen Viehhalter in den vergangenen 12.000 Jahren mehr als 8000 Nutztierrassen. Parallel zur Vielfalt in der Landwirtschaft entwickelte sich auch ein umfangreiches Wissen darüber, wie sie geschützt, genutzt und züchterisch bearbeitet werden kann. Eng damit verbunden war die Herausbildung einer großen kulturellen Vielfalt.

Unsere landwirtschaftlichen Kulturpflanzen stammen ursprünglich aus unterschiedlichen Regionen – Roggen und Weizen beispielsweise aus dem Nahen Osten, Mais aus Mexiko, Kartoffeln, Tomaten und Paprika aus der Andenregion und Reis aus China und Indien. In diesen Gebieten, den Diversitätszentren, ist auch heute noch die Vielfalt besonders groß, vor allem die Vielfalt an Wildarten unserer Nahrungspflanzen. Ein Genpool, auf den Bauern und kommerzielle Züchter laufend zurückgreifen. Bei den landwirtschaftlichen Nutztieren ist dies anders: Da gibt es, abgesehen vom Wildschwein, keine Urformen mehr, sie sind hauptsächlich infolge der Züchtung verschwunden. Hier sind die alten Haustierrassen der wichtigste Genpool, den wir weltweit haben.
 

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Die Ursache für den Verlust der Agrobiodiversität war und ist die zunehmende Intensivierung und Industrialisierung auch der Landwirtschaft. Viele Bauern wurden zunächst vom Selbstversorger zum Nahrungsmittelproduzenten; heute werden sie zunehmend zum Rohstofflieferanten für die Nahrungsmittelindustrie. Gefragt sind große Partien Weizen, Kartoffeln, Zuckerrüben, Mais oder Reis mit standardisierten Eigenschaften, genau passend für den vorgesehenen Zweck – die richtige Menge Kleber im Backweizen oder die passende Qualität und Quantität an Eiweiß in der Braugerste. Die kommerzielle Pflanzenzüchtung hat die industrielle Verarbeitung und möglichst hohe Flächenerträge im Auge, um die ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren.

Höhepunkt dieser Bemühungen war Mitte der 1970er Jahre die Grüne Revolution: Für große Teile der Welt wurden einheitliche Hochleistungssorten bereitgestellt, die – mit der richtigen Menge Mineraldünger, Pflanzenschutzmitteln und Wasser versorgt – an landwirtschaftlich günstigen Standorten tatsächlich die Erträge stark steigerten. Dadurch konnte zum Beispiel von 1950 bis 2000 die globale Getreideproduktion nahezu verdreifacht werden. Ein weiteres Merkmal der industrialisierten, intensiven Landwirtschaft sind Monokulturen, die in jüngster Zeit noch einmal sprungartig ausgeweitet wurden, beispielsweise durch die Anlage von Palmölplantagen zur Erzeugung von Biosprit in Indonesien und anderen südostasiatischen Ländern. In Argentinien hat der Anbau von gentechnisch veränderten Sojabohnen, hauptsächlich für die europäische Futtermittelindustrie, die kleinbäuerliche Landwirtschaft und die damit verbundene Vielfalt großflächig verdrängt.

In der Tierhaltung fand eine vergleichbare Entwicklung statt. Zum Beispiel standen in den 1950er Jahren bei uns in Mitteleuropa noch viele so genannte Zweinutzungsrinder in den Ställen, also Tiere, die sowohl der Fleisch- als auch der Milchgewinnung dienten. Heute findet man dort hoch spezialisierte Milchkühe und Mastrinder. Die Kuh, die zehntausend Liter Milch im Jahr gibt, ist durch gezielte Züchtung entstanden, ihr volles Potenzial entfaltet sie aber nur, wenn sie entsprechend gehalten und gefüttert wird.

Heute dominieren weltweit einige wenige Nutztierrassen die Fleisch-, Milch- und Eierproduktion. So stehen in 128 Ländern die schwarz-weiß gefleckten Holstein-Friesian-Kühe in den Ställen und liefern weltweit den größten Teil der Milch. Reproduktionstechniken wie künstliche Besamung und das Tiefkühlen von Samen machen es möglich, das genetische Material besonders leistungsfähiger Vatertiere auf der ganzen Welt bei der Züchtung zu nutzen. Dadurch werden im Laufe der Zeit die Tiere genetisch immer einheitlicher und damit auch anfälliger, beispielsweise für Krankheiten. Dieselbe Entwicklung haben wir bei den landwirtschaftlichen Nutzpflanzen: Die Hochleistungssorten der weltweit wichtigsten Nahrungspflanzen Reis, Mais und Weizen haben als Folge der intensiven züchterischen Bearbeitung ein engeres genetisches Spektrum als die weniger stark bearbeiteten lokalen Landsorten, die noch von den meisten Bäuerinnen und Bauern in Entwicklungsländern angebaut werden.

Großen Einfluss auf den Erhalt der biologischen Vielfalt in der Landwirtschaft haben auch ökonomische Anreize oder ihr Fehlen. Beispielsweise wird häufig die Einfuhr von Hochleistungssorten oder die Ausweitung großflächiger Monokultur subventioniert. Dagegen fehlt fast überall eine breite Unterstützung für die Züchtung verbesserter, lokal angepasster Nutzpflanzen und Nutztiere und für die Vermarktung von Produkten, die zum Erhalt der landwirtschaftlichen Vielfalt beitragen könnten.

Eine Gefährdung geht auch von den gentechnisch veränderten Sorten aus. Zwar haben sie die hochintensive Agrarproduktion teilweise noch rentabler gemacht, gleichzeitig aber auch die Verbreitung von Monokulturen beschleunigt, die biologische Vielfalt verdrängt und die Ernährungslage zum Teil auch verschlechtert. In Argentinien etwa gingen der Reis- und Kartoffelanbau um rund 40 Prozent zurück, die Gemüse-, Milch-, Eier und Fleischproduktion für den Eigenverbrauch ist als Folge der Ausdehnung des Sojaanbaus noch stärker gesunken.  Und nicht zuletzt hat die Gentechnologie entscheidend zur Unternehmenskonzentration in der Saatgut-Industrie beigetragen. So stammte im Jahre 2006 bei rund 90 Prozent der Fläche, auf der gentechnisch veränderte Sorten angebaut wurden, das Saatgut direkt oder indirekt von nur einer Firma – Monsanto. Diese Entwicklung macht die Landwirte abhängig und die Anbausysteme genetisch uniform.

Welch fatalen Folgen das haben kann, hat sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland gezeigt, als die bis dahin in Europa unbekannte Kraut- und Knollenfäule drei Jahre hintereinander die gesamte Kartoffelernte vernichtete. Die damals in Irland angebauten Kartoffeln stammten alle von zwei Sorten ab, hatten also alle die gleichen Gene und waren damit alle gleich anfällig. Die Folge war eine noch nie da gewesene Hungerkatastrophe; mehr als eine Million Menschen starben, anderthalb Millionen wanderten aus Irland aus.

Heute leben von den mehr als einer Milliarde Hungernden weltweit vier Fünftel im ländlichen Raum. Sie sind in der Hauptsache Bauern und Viehzüchter. Eine große Vielfalt lokaler Nutzpflanzensorten und lokal angepasster Tierrassen sichert ihr Überleben unter teilweise schwierigen ökologischen Bedingungen. Sie ermöglicht es ihnen, mit einem Minimum an landwirtschaftlichen Betriebsmitteln wie Dünger, Pflanzenschutzmitteln und Bewässerung zu produzieren. Hunger und Armut können hier nur überwunden werden, wenn die Bauern in die Lage versetzt werden, unter diesen Bedingungen erfolgreicher Landwirtschaft zu treiben und die knappen Ressourcen besser und nachhaltiger zu nutzen. Deshalb muss das große Potenzial der Agrobiodiversität vor allem für die ökologisch benachteiligten Regionen der Welt erschlossen werden. Nicht die großflächigen Monokulturen und Hochleistungssorten sichern das Überleben vieler Millionen Menschen, sondern die landwirtschaftliche und natürliche Vielfalt vor Ort, zu der sie freien Zugang haben.

Hinzu kommt: Infolge der Erderwärmung ist mit drastischen Folgen für die Landwirtschaft und die Ernährungssicherung zu rechnen, allerdings mit erheblichen regionalen Unterschieden. Der Agrobiodiversität kommt bei der Anpassung der Landwirtschaft an den Klimawandel eine neue Bedeutung zu als Risikoversicherung für die Zukunft. Genetische Vielfalt verleiht Pflanzensorten und Tierrassen die Fähigkeit, neue Eigenschaften auszubilden und beispielsweise mit zunehmender Hitze oder Trockenheit besser zurechtzukommen. Der Artenschwund in der Landwirtschaft ist bei uns in Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren zum Stillstand gekommen. Dagegen ist die Agrobiodiversität trotz Genbanken und der Bemühungen um ihre Erhaltung vor allem in Entwicklungsländern, wo sie ursprünglich sehr groß war, weiterhin stark bedroht.

Dazu trägt bei, dass die im Internationalen Saatgutvertrag vorgesehen Rechte der Bäuerinnen und Bauern unzureichend gewährleistet sind (siehe Kasten). Oft haben Bauern auch keine wirtschaftlichen Anreize zum Erhalt der alten Sorten. In Zusammenarbeit mit der Wirtschaft können hier Nischenmärkte eröffnet werden, die den Anbau zu einem lohnenden Geschäft machen. Beispiele sind der Anbau und die Vermarktung alter Kakaosorten in Ekuador oder von Wildkaffee in Äthiopien, die dann als so genannte Biodiversitätsprodukte beispielsweise über den Fairen Handel oder als hochpreisige Spezialitäten im Fachhandel verkauft werden. Die Erlöse für die Bauern sind deutlich besser als bei Massenware. „Use it or lose it“, dies gilt beim Erhalt der Agrobiodiversität in ganz besonderem Maße. Was sich nicht rechnet, wird nicht mehr angebaut. 

Die landwirtschaftliche biologische Vielfalt ist ein öffentliches Gut von höchstem ökologischem, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Wert. Ihr Erhalt sollte eine höhere gesellschaftliche Priorität erhalten, in Deutschland und auch anderswo.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2010: Artenvielfalt: Vom Wert der Natur
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