Autorin
Susann Kreutzmann
arbeitet als Journalistin und lebt in Berlin. Die Recherche für diesen Artikel wurde von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und dem UN-Welternährungsprogramm unterstützt.„Brasilien wäre nicht das Land, das es heute ist ohne die Hilfe von Millionen Afrikanern, die es mit aufgebaut haben", begründet Lula da Silva seine Initiativen. Der kulturelle Einfluss Afrikas ist in der brasilianischen Gesellschaft überall spürbar. Rund die Hälfte der 190 Millionen Brasilianer haben afrikanische Wurzeln. Somit ist Afrika auch Schwerpunkt in der Süd-Süd-Zusammenarbeit, die unter Lula da Silva entscheidend vorangekommen ist. „Brasilien hat die Rolle eines globalen Führers übernommen und übernimmt jetzt auch globale Verantwortung", sagt Felix Zimmermann vom Entwicklungsausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). „Die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit ist unter Lula um hundert Prozent gestiegen", bestätigt der brasilianische Politikwissenschaftler Kjeld Jacobsen.
Das lässt sich in Zahlen ausdrücken: 2010 steht für die Entwicklungszusammenarbeit ein Budget von insgesamt 1,2 Milliarden US-Dollar bereit - bei Lulas Amtsantritt 2003 waren es nur rund 300 Millionen US-Dollar. Vom diesjährigen Gesamtbudget entfallen 30 Millionen US-Dollar auf humanitäre Hilfe, 300 Millionen US-Dollar gehen an das Welternährungsprogramm und 25 Millionen US-Dollar an das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP). Neben den portugiesischsprachigen Staaten Afrikas ist Haiti schon seit langem ein Schwerpunktland brasilianischer Entwicklungszusammenarbeit. Die Brasilianer stellen die Führung der UN-Blauhelmtruppen, und zahlreiche nichtstaatliche Organisationen (NGO) aus Brasilien engagieren sich seit Jahren vor allem im Gesundheitsbereich des Karibikstaates. Mit 350 Millionen Euro im Jahr 2010 ist die Hilfe für Haiti der größte Einzelposten im Budget. Die brasilianische Entwicklungsbank BNDES stellte zudem von 2008 bis 2010 Kredite in Höhe von rund 3,3 Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Sie flossen vor allem in Infrastrukturprojekte, besonders im landwirtschaftlichen Bereich und in den Bau von Schulen und Ausbildungsstätten.
Das starre Muster in der Entwicklungszusammenarbeit mit der Unterteilung zwischen Nord und Süd ist schon seit langem aufgebrochen. Der Einfluss von Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), die in den 1980er und 1990er Jahren den lateinamerikanischen Ländern noch neoliberale Wirtschaftsreformen aufdrückten, ist zurückgegangen. Die „alten" Geber sind in der OECD organisiert. Dort haben sie gemeinsame Standards und Praktiken für die Entwicklungszusammenarbeit entwickelt. Inzwischen ist die Zahl der „neuen" Geber aber auf mehr als 30 Länder gestiegen. Brasilien hat sich in den vergangenen zehn Jahren zusammen mit China zum wichtigsten Sprachrohr dieser Gruppe entwickelt.
„Die OECD heißt die neue Entwicklungszusammenarbeit der Schwellenländer grundsätzlich willkommen, besonders da nach der Krise alte Geber die Budgets gekürzt haben", sagt Zimmermann. Vor allem auf die Erfahrungen Brasiliens setzt die OECD, denn das sechstgrößte Land der Welt ist nach wie vor auch Empfänger von Entwicklungshilfe. Allerdings definiert es sich selbst nicht als Geber, sondern als „neuer Dienstleister" und setzt auf eine „Kooperation auf gleicher Augenhöhe". So wie China verfolgt Brasilien das Prinzip der Nichteinmischung: Beide Länder knüpfen ihre Entwicklungszusammenarbeit anders als die OECD-Mitglieder nicht an das Prinzip guter Regierungsführung.
Im Unterschied zur Volksrepublik stünden für Brasilien nicht nur wirtschaftliche Interessen im Vordergrund der Entwicklungspolitik, betont Zimmermann. Ein stärkeres Engagement Brasiliens wünscht sich die OECD allerdings bei der gegenwärtigen Reform der Entwicklungshilfe, die eine bessere Arbeitsteilung und Abstimmung von Gebern und Empfängern zum Ziel hat. Brasilien verknüpft sein Entwicklungsengagement mit Handelspräferenzen und der Förderung von ausländischen Direktinvestitionen für die eigenen Unternehmen. Zum Beispiel im Rahmen seines Ethanol-Programms: Brasilianische Unternehmen liefern in afrikanische Länder das technische Know-how zum Aufbau einer eigenen Ethanolproduktion. „In 20 Jahren wird Brasilien das Saudi-Arabien des Bioethanols sein", verkündete Lula da Silva jüngst stolz. Zuckerrohr sei der Schlüssel zur weltweiten Bekämpfung von Hunger und Armut.
Im Gegensatz zu Venezuela, das in Lateinamerika nach Brasilien in der Entwicklungshilfe tonangebend ist, setzt Brasilien auf den politischen Dialog in multinationalen Institutionen wie der Gruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, G20, oder den Vereinten Nationen. Doch auch in Brasilien ist die Entwicklungszusammenarbeit außenpolitischen Interessen untergeordnet. Das wird offen zugegeben: Je mehr Kooperationsprojekte in Afrika und Lateinamerika, desto größer wird die Zahl potenzieller politischer Verbündeter, lautet das Kalkül. Ob in der G20 oder den UN, Brasilien möchte als aufstrebende Wirtschaftsmacht auch seinen politischen Einfluss ausbauen. Eine der Forderungen, die Präsident Lula immer wieder hervorhebt, ist ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat. Brasiliens Entwicklungspolitik blickt auf eine 60-jährige Tradition zurück. Ihre Geburtsstunde schlug 1950, als die damalige Regierung eine „Nationale Kommission der Technischen Assistenz" (Comissão Nacional de Assistência Técnica - CNAT) ins Leben rief. Sie sollte in erster Linie Entwicklungsprojekte im eigenen Land ankurbeln und die Zusammenarbeit mit den ausländischen Gebern koordinieren. Gleichzeitig war Brasilien aber selbst als Geber für Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) aktiv. 1987 wurde als erste eigenständige entwicklungspolitische Regierungsinstitution die brasilianische Entwicklungsagentur ABC (Agência Brasileira para Cooperação) ins Leben gerufen. In der Agentur, die dem Außenministerium angegliedert ist, laufen die Fäden brasilianischer Entwicklungszusammenarbeit zusammen. Sie koordiniert, betreut und evaluiert die technische Entwicklungszusammenarbeit.
„Wir haben ein eigenes Konzept der Kooperation entwickelt, das die Fehler der anderen Länder zu vermeiden versucht", erklärt der zuständige Minister und Chef der ABC, Marco Farani. Einbezogen seien alle Ministerien sowie alle staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit. Alle klassischen Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit seien auf den Prüfstand gestellt worden. Neue Formen der Projektpartnerschaft würden ausprobiert. Mit 70 Millionen Reais (rund 30 Millionen Euro) sei das jährliche Budget zwar nicht sehr groß, die ABC arbeite aber effizienter als Institutionen in anderen Ländern, erklärt Farani. Neben der ABC haben viele Ministerien und andere staatliche Organisationen ein eigenes Budget für Entwicklungsprojekte, das sich insgesamt auf 440 Millionen US-Dollar beläuft.
2008 hat die ABC 236 Projekte in 58 Ländern mit den Schwerpunkten Agrarentwicklung, Nahrungssicherheit, Bildung, Gesundheit, Stadtentwicklung, Justiz und Biotreibstoffe durchgeführt. Rund 115 Projekte und damit etwa die Hälfte aller Vorhaben der technischen Zusammenarbeit entfielen auf Afrika, davon 74 Prozent auf die portugiesischsprachigen Länder Angola, Mosambik, die Kapverden und Guinea-Bissau. Über neue Projekte wird derzeit unter anderem mit Kenia, Sambia, Burkina Faso, Botswana, dem Tschad und dem Senegal verhandelt. In Asien ist Brasilien in Afghanistan, Usbekistan und Osttimor aktiv. Im Nahen Osten liegt der Schwerpunkt auf Gesundheitsprojekten in den Palästinensischen Gebieten und dem Libanon. Dafür steht in diesem Jahr ein Betrag von zehn Millionen US-Dollar zur Verfügung.
Neben Japan ist Deutschland wichtigster Partner bei den so genannten Dreieckskooperationen: Je ein altes Industrieland und ein Schwellenland kooperieren mit einem Entwicklungsland. Globale Krisen wie der Klimaschutz oder der Kampf gegen HIV/Aids sollen gemeinsam gemeistert werden. Weitere Länder profitieren dann von den Erfahrungen. In vielen Bereichen sei Brasilien Vorreiter, sagt der Leiter des Büros der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), Ulrich Krammenschneider. Erfolgreich sind etwa Präventionsmaßnahmen gegen die Immunschwächekrankheit Aids nach brasilianischem Vorbild, die bereits in 22 Ländern Lateinamerikas und der Karibik etabliert sind. Brasilien hatte schon früh staatliche Aufklärungsprogramme verankert und kostenlos Kondome abgegeben. Zudem werden in Brasilien als einem der wenigen Länder weltweit HIV-Infizierte vom Staat kostenlos mit Medikamenten versorgt und therapeutisch betreut. Auf diese Weise ist es gelungen, die Zahl der Neuerkrankungen und der Aidstoten erheblich zu senken.
Brasiliens neue Präsidentin Dilma Rousseff, die am 1. Januar 2011 ihr Amt antritt, will in der Entwicklungspolitik in die Fußstapfen von Lula treten und den begonnenen Weg fortsetzen. Kontinuität lautete das Schlüsselwort im Wahlkampf. Bis zum Regierungswechsel wird Rousseff ihren politischen Ziehvater deshalb noch auf mindestens acht Auslandsreisen begleiten, einige davon sollen nach Afrika führen. Im Wahlkampf verkündete die künftige Präsidentin immer wieder, außenpolitisch setze Brasilien auf die Prinzipien der Solidarität und Kooperation. Dazu gehöre vor allem, die Süd-Süd-Kooperation auszubauen und das gemeinsame Verteidigungsbündnis Union südamerikanischer Nationen (UNASUR) zu stärken.
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