Dem Lynchmob zum Opfer gefallen

In kaum einem anderen Land werden so viele Menschen Opfer von Selbstjustiz wie in Guatemala. Die Medien schieben die Lynchmorde gerne den Mayas in die Schuhe. Doch das Phänomen hat ganz andere Wurzeln als indigenes Recht.

San Juan Cotzal ist eine kleine Idylle, fast schon ein bisschen kitschig. Das Städtchen liegt am Fuß der fast 3000 Meter hohen Bergkette Los Cuchumantanes im satten Grün des Hochlands in der Provinz Quiché, 270 Kilometer nördlich von Guatemala-Stadt. Kleine bunt gestrichene Häuschen mit roten Ziegeldächern säumen die engen gepflasterten Sträßchen mit hohen Bürgersteigen. In der Mitte ein Platz mit Blumenrabatten vor einer weiß getünchten Kirche. Man könnte hier einen mexikanischen Western drehen. Und auch das würde in San Juan Cotzal zu einem Western passen: Es war Schauplatz eines Lynchmordes – vor nicht allzu langer Zeit.

Die Fälle kollektiver Selbstjustiz an Schuldigen und Unschuldigen haben vor allem in dem von den Mayas besiedelten Nordwesten Guatemalas seit dem Ende des Bürgerkriegs (1960 bis 1996) sprunghaft zugenommen. 1996 wurden nach Zahlen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in dem Land knapp 50 Menschen Opfer von Lynchjustiz. Im Jahr 2000 waren es über 100, im vergangenen Jahr fast 300. Unter all diesen Fällen ist der Lynchmord von San Juan Cotzal ein besonderer. Es ist der derzeit einzige Fall, in dem der Anstifter drei Jahre nach der Tat verurteilt wurde: José Pérez Chen, der Bürgermeister der Stadt.

Es geschah am 1. November 2009, dem Tag vor Allerseelen. Diego Sembrano hatte den Morgen damit verbracht, Drachen zu basteln. Allerseelen ist in Guatemala ein fröhlicher Feiertag: Man geht auf den Friedhof, schmückt die Gräber mit Blumen, isst, trinkt und plaudert. Und man lässt gerne Drachen steigen. Doch dazu fehlte Sembrano der Faden. Er ging ins Zentrum, um welchen zu kaufen.

Autoren

Toni Keppeler

ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.

Cecibel Romero

ist freie Journalistin in San Salvador.

In der Stadt herrschte an diesem Tag geschäftiges Gewusel. Ein Lautsprecherwagen fuhr durch die Straßen und forderte die Menschen auf, sich auf dem Platz vor Rathaus und Kirche zu versammeln. Sembrano ging hin. Dort befanden sich rund 200 Männer und Frauen dicht gedrängt. Vorne vor dem Rathaus stand der Bürgermeister José Pérez Chen, eskortiert von ein paar mit Flinten bewaffneten Männern des „lokalen Sicherheitskomitees“ (CSL), einer privaten Bürgerwehr. Neben Pérez Chen stand Pedro Rodríguez Tomá, Polizist im 15 Minuten entfernten Städtchen Chajul, in Uniform und mit blutig geschlagenem Gesicht. Rodríguez Tomá sei ein Verbrecher, sagte der Bürgermeister. Man werde ihm jetzt „Maya-Gerechtigkeit“ widerfahren lassen. Sembrano zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und filmte.

Diego Sembrano ist ein ruhiger und überlegter Mann. Am Tag nach diesem Vorfall wurde er 32 Jahre alt. Er ist Maya, klein und ein bisschen gedrungen, mit Mandelaugen und diesem fast ins Olivgrüne gehenden dunklen Teint. Sein kurz geschorenes Haar ist rabenschwarz und störrisch. Er ist gelernter Psychologe und arbeitete damals für ein kleines privates Hilfswerk, das sich um die Aufarbeitung der im Bürgerkrieg erfahrenen psychosozialen Traumata in Maya-Gemeinden kümmert. „Ich habe nicht lange gefilmt“, erzählt er heute, „vielleicht eine Minute.“ Aber viele der Umstehenden hätten das mitbekommen, auch der Bürgermeister. Der habe dann seine Sicherheitstruppe angewiesen, ihm das Mobiltelefon wegzunehmen. Sembrano steckte es schnell in die Hosentasche. „Da kamen sie schon, ein paar von hinten, ein paar von der Seite und wieder andere von vorne. Sie haben mich heftig verprügelt.“ Ein Mann schlug ihm mit dem Kolben seiner Flinte ins Gesicht. Sembrano verlor die Besinnung. Freunde haben ihn aus dem Gemenge gezerrt und zur nächsten Krankenstation gebracht.

Kurz nachdem er entkommen war, wurde der Polizist Rodríguez Tomá mit Benzin übergossen und angezündet. Er starb auf dem Platz vor der Kirche. Sembrano hat das erst am nächsten Tag erfahren. Sein Mobiltelefon wurde danach ein Beweismittel im Prozess gegen den Bürgermeister. Pérez Chen hatte schon vorher gerne von „Maya-Justiz“ gesprochen und das, was er darunter versteht, auch angewendet. Als im Städtchen die erste Jugendbande auftauchte, ließ er ihre Mitglieder festnehmen und öffentlich verprügeln.

Dass überwiegend Maya lynchen, muss in der guatemaltekischen Presse oft als Erklärung für das grausige Phänomen herhalten. Kolumnisten schreiben von „kulturellen Mustern“ aus dem „Gewohnheitsrecht der Indígenas“, die solche Akte der Selbstjustiz fördern würden. Alles Hirngespinste, sagt Eduardo Sacayón. Lynchmorde hätten mit Maya-Gerechtigkeit nichts zu tun. Im Gegenteil: „Ein Grundprinzip der traditionellen Maya-Justiz ist die Gewaltlosigkeit.“

Sacayón ist Sozialpsychologe und Direktor des Instituts für interethnische Studien an der staatlichen San-Carlos-Universität von Guatemala-Stadt. Ziel der traditionellen Maya-Justiz sei es, die durch ein Vergehen gestörte Harmonie in einer Gemeinschaft wieder herzustellen, sagt er. Die Strafen waren ursprünglich rein symbolisch. „Sicher, es gab auch Fesselungen. Aber ohne Schmerz für den Delinquenten.“ Das Ziel des Verfahrens seien die Einsicht und Reue des Angeklagten und das öffentliche Versprechen, sich zu ändern. Nur in ganz gravierenden Fällen wurden Delinquenten aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Sacayón gesteht zu, dass es die „reine Form der Maya-Gerechtigkeit“ nicht mehr gibt. Es gebe heute auch Prügelstrafen und Auspeitschungen. Doch die Serie der Lynchmorde sei kein ethnisches Phänomen. Sie haben zwar in meist abgelegenen Maya-Gemeinden begonnen, längst aber auch die Städte erreicht. Selbst in Guatemala-Stadt wird heute gelyncht, auch von Mestizen und Weißen.

95 Prozent der rund 20.000 Einwohner von San Juan Cotzal sind Mayas. Bürgermeister Pérez Chen gehört genauso dazu wie seine Häscher vom lokalen Sicherheitskomitee. „Man kennt diese Leute in der Stadt“, sagt Diego Sembrano. „Sie waren früher bei den zivilen Selbstverteidigungspatrouillen, und der Bürgermeister hat sie dann zu lokalen Sicherheitskräften gemacht.“ Diese Selbstverteidigungspatrouillen, in Guatemala nach ihrem spanischen Kürzel PAC genannt, waren im Bürgerkrieg von der Armee als paramilitärische Einheiten aufgebaut worden. Sie waren die Spitzel und Todesschwadronen der Armee. „Die Struktur des lokalen Sicherheitskomitees ist heute dieselbe wie damals bei den PAC“, sagt Sembrano. „Und sie haben noch immer dieselben Waffen.“

Meist nahmen sie nur Mitglieder von Jugendbanden fest. Auch dem Lynchmord am Polizisten Pedro Rodríguez Tomá ging die Verhaftung eines jungen Mannes voraus, den der Bürgermeister für das Mitglied einer Jugendbande hielt: Alejandro, der damals 16-jährige Sohn des Polizisten. Er war am Morgen des 1. November 2009 zusammen mit einem Freund und seiner Tante Teresa Gómez über den Platz vor der Kirche gegangen, als der Bürgermeister im Auto vorbeifuhr. Der Bürgermeister hielt an. „Sie wechselten Blicke“, erzählt Gómez. Und ja, der Blick von Alejandro sei ein bisschen abschätzig gewesen.
Der Bürgermeister stieg aus und wies seine beiden Leibwächter an: „Schnappt euch den Jungen. Der gehört zu einer Mara. Sperrt ihn in eine Zelle.“ So geschah es. Alejandros Mutter ging zusammen mit der Großmutter ins Gefängnis, um ihren Jungen herauszuholen. Sie sei dort beschimpft worden und geschlagen, so sehr, dass man sie im Krankenhaus habe behandeln müssen.

Die beiden Frauen riefen den Vater zu Hilfe. Der kam direkt vom Dienst im Nachbarstädtchen, in Uniform und mit Pistole. Im Rathaus verlangte er den Bürgermeister zu sprechen. Man werde nach ihm rufen, sagte man ihm. Aber er müsse seine Waffe abgeben. Was danach passiert ist, wird wohl nie richtig aufgeklärt werden können. Offenbar weigerte sich der Polizist, seine Dienstpistole auszuhändigen, und es kam zu einem Handgemenge. Dabei löste sich ein Schuss. Es ist unklar, ob er aus der Pistole des Polizisten kam oder aus einer der Waffen der Mitglieder des lokalen Sicherheitskomitees. Ein Leibwächter des Bürgermeisters wurde am Bein getroffen, danach wurde der Polizist überwältigt.

Draußen auf dem Platz, als Bürgermeister Pérez Chen den zusammengeschlagenen Rodríguez Tomá dem versammelten Volk als Verbrecher präsentierte, hatte niemand den Mumm, etwas dagegen zu sagen. Nur die Mutter von Rodríguez Tomá habe sich getraut, noch einmal zu ihrem Sohn zu gehen. Sie habe ihm die Hand auf den Arm gelegt und geflüstert: „Bete, mein Sohn. Mehr kannst du nicht mehr tun.“

„Die Mayas haben den Staat kennengelernt als einen, der mordet und zerstört und sie ohne Führung zurücklässt“

Bürgerwehren, die aus den Selbstverteidigungspatrouillen entstandenen sind, gibt es heute in vielen Dörfern und Städten Guatemalas. Das Muster, nach dem sie vorgehen, sei noch immer dasselbe wie im Krieg und habe mit der Maya-Kultur nichts zu tun, sagt Eduardo Sacayón vom Institut für interethnische Studien. „Die Mayas lebten bis zum Bürgerkrieg sehr abgeschlossen, sie hatten ihre traditionellen Führer und ihre eigenen Strukturen. Sie regelten ihre Angelegenheiten selbst.“ Die öffentliche Verwaltung habe sich damals nicht um sie gekümmert. „Erst mit dem Krieg kam der Staat in diese Gemeinden, als repressive Armee.“

Die Guerilla operierte damals vor allem in von Mayas besiedelten Gegenden, die Armee ging gegen die indianische Zivilbevölkerung vor. Die traditionellen Führer wurden ermordet. „Die Mayas haben den Staat kennengelernt als einen, der mordet und zerstört und sie ohne Führung zurücklässt“, sagt Sacayón. Das entstandene Vakuum sei dann von neuen Führern gefüllt worden: den PAC. „Mit ihnen kam die Herrschaft des Terrors und es war besonders perfide, dass man Mayas benutzte, um Mayas zu ermorden.“ Opfer und Täter kamen aus demselben Dorf. Guerilleros oder solche, die man dafür hielt, wurden vor versammelter Gemeinde erschossen oder erschlagen, ohne Prozess. „Das schuf ein neues Muster der Gewalt.“

Die lokalen Sicherheitskomitees haben es von den PAC übernommen. Aus den außergerichtlichen Exekutionen des Bürgerkriegs wurden Lynchmorde. Sie sind ein reines Nachkriegsphänomen. Und sie sind nicht spontan, sondern geplant. „Es wird richtig dazu mobilisiert“, sagt Sacayón. „Mit Lautsprecherwagen, mit Trillerpfeifen, mit Kirchenglocken. Manchmal sogar mit direkten Aufrufen in Maya-Sprachen in den lokalen Radiosendern.“

Weil Opfer und Täter so eng miteinander verbunden sind, ist bislang keines dieser Verbrechen richtig aufgeklärt worden. „Wer fragt, stößt auf eine Mauer des Schweigens“, sagt Francisco Guaré von der staatlichen Menschenrechtsanwaltschaft. Die einen redeten nicht, weil sie Täter sind oder mit ihnen verwandt, die anderen, weil sie Angst haben. Nur Diego Sembrano hat sich entschlossen, den Tod des Polizisten Pedro Rodríguez Tomá anzuzeigen.

Trotzdem dauerte es länger als ein Jahr, bis am 15. Dezember 2010 ein Haftbefehl gegen Bürgermeister Pérez Chen erlassen wurde. Und erst im zweiten Anlauf einer groß angelegten Suchaktion von Polizei und Militär gelang es mehr als ein halbes Jahr später, den Bürgermeister zu schnappen. Noch einmal fünfzehn Monate später wurde Pérez Chen zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Diego Sembrano musste nach der Anzeige San Juan Cotzal verlassen. Er lebt heute unter anderem Namen in einer anderen Stadt. Die Staatsanwaltschaft lässt ihn rund um die Uhr beschützen. Auch die Familie von Pedro Rodríguez Tomá hat San Juan Cotzal verlassen. Sein Sohn und seine Frau wollen über die Vorfälle von damals nicht reden.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2013: Wer spricht Recht?
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