Lernen wie ein Papagei

Bildung ist der Schlüssel zu einem besseren Leben – da sind Eltern, Kinder und die Regierung in Vietnam sich einig. Schulen und Lehrer gibt es genug. Doch manche Unterrichts­methoden lassen noch zu wünschen übrig.

Samstagnachmittag in Hanoi: Eine junge Frau spricht uns in der Altstadt an. „Excuse me“, sagt sie genauso schüchtern wie zielstrebig, „do you speak English?“  Üblicherweise beginnt in Vietnam so ein Verkaufsgespräch mit westlichen Ausländern – für ein T-Shirt oder Tuch. Aber diese junge Frau möchte einfach nur ein wenig auf Englisch plaudern. „Would you mind speaking with me?“, fügt sie an und öffnet einen dicken Ordner, in den sie jede neue englische Redewendungen säuberlich notiert. Hoa Nguyen, wie sie sich bald vorstellt, möchte vorankommen im Leben. Sie studiert Agrarwissenschaften und will später einen guten Job finden – dafür muss sie Englisch können. Deshalb, erklärt sie, nutze sie jede Gelegenheit zum Üben.

Ein paar Tage später und etwa 60 Kilometer weiter südlich steht Van Thanh Nguyen an einer Drehmaschine und bearbeitet ein silberglänzendes, rundes Stück Metall, das später als Hauptantrieb für einen Roboter dienen soll. Van Tanh studiert im vierten Jahr in einer Bildungseinrichtung, die hierzulande wohl als Fachhochschule gelten würde – mit hohem Praxisanteil und viel Zeit in Werkstätten. Er möchte Ingenieur werden. Genau wie seine zwei älteren Brüder, die ebenfalls auf der „Hung Yen University of Technology and Education“ waren und mittlerweile im wirtschaftsstarken Saigon arbeiten.

Drei Brüder, drei Ingenieure – das klingt nach einer strebsamen und bildungsorientierten Familie. Das ist sie allerdings noch nicht lange: Die Eltern leben auf dem Land, in der Provinz Ha Tinh, und arbeiten dort als Bauern. Trotzdem haben sie ihre drei Söhne auf höhere Schulen geschickt und dafür große Opfer in Kauf genommen: Eine Million vietnamesische Dong erhält Van Thanh von seinen Eltern im Monat. Das entspricht etwa 40 Euro und ist bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 100 Euro monatlich eine schöne Stange Geld.

Zwei außergewöhnliche Geschichten von jungen Menschen? Keineswegs. Vietnam ist im Aufbruch – ein Land auf dem Weg nach oben. Ein Land, das durch eine eigenwillige Mischung aus Sozialismus und Kapitalismus in den vergangenen zehn Jahren beeindruckende Wachstumsraten von durchschnittlich sechs Prozent erzielt hat. Zwar hat die Weltwirtschaftskrise auch in Vietnam eine Wachstumsdelle hinterlassen, aber für 2013 wird dennoch wieder mit einem Plus von fünf Prozent gerechnet. Und wenn es nach der Regierung geht, gehört das Land schon im Jahr 2020 zum Kreis der Industriestaaten.

Ein Rezept, um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, lautet: Bildung, Ausbildung und Fortbildung. In kollektiver Übereinstimmung scheint sich ganz Vietnam diesem Vorsatz verschrieben zu haben. Die Schulen und das Fortkommen der Kinder sind ein gängiges Gesprächsthema: auf Partys, in Cafés, Restaurants oder eben in Familien selbst. Unisono lautet die Aussage: „Bildung ist wichtig.“ Selbst arme Familien wie die Eltern von Van Thanh setzen alles in Bewegung, um ihre Kinder auf eine möglichst gute Schule zu schicken. „Das ist der Schlüssel zu allem und als solcher in allen gesellschaftlichen Schichten akzeptiert“, sagt Bui Thi Viet Ha, stellvertretende Direktorin einer Textil- und Modeschule nahe Hanoi.

Auch Birgit Erbel, Büroleiterin der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) inHanoi, bestätigt, dass Bildung zu den höchsten Werten in Vietnam überhaupt zähle. Die KfW unterstützt das Land unter anderem beim Aufbau berufsbildender Schulen und hat in den vergangenen Jahren Erfahrung mit dem dortigen Bildungssystem gesammelt: „Vietnamesische Eltern möchten im Normalfall, dass ihre Kinder eine bessere Schulbildung erhalten als sie selbst“, berichtet Erbel, die seit nunmehr fast fünf Jahren in Hanoi lebt.

Zum Bildungshunger beigetragen haben nicht nur die Aussicht auf mehr Konsum, eine höhere Wirtschaftskraft und insgesamt bessere Verhältnisse. Auch die Mischung aus konfuzianischer Tradition und sozialistischem Erziehungseifer hat wohl den Boden dafür bereitet. Die schrittweise wirtschaftliche Öffnung, die Vietnam vor 25 Jahren eingeleitet hat, tat ein Übriges. Heute zählt das Land Bildung zu den Kernvoraussetzungen, um in der globalisierten Wirtschaft zu bestehen – und hat dabei schon große Fortschritte erzielt.

Internationale Organisationen sind von den bisherigen Ergebnissen jedenfalls angetan: Die Repräsentantin der UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) in Vietnam, Katherine Mueller-Marin, lobt das Engagement der Regierung überschwänglich. Sie spricht von „sehr, sehr beeindruckenden Fortschritten“ und sieht das Land vor allem bei der Alphabetisierung und bei dem Millenniumsziel „Bildung für alle“ auf einem guten Weg. Inzwischen gehen 98 Prozent der fünfjährigen Kinder in eine Vorschule, fast alle Kinder besuchen auch eine Grundschule, sogar in entlegenen Regionen. Selbst 20 Prozent der Mädchen und Jungen unter drei Jahren gehen schon in eine Krippe, in Deutschland sind es knapp 28 Prozent.

Entsprechend liegt die Alphabetisierungsrate unter den über 15-jährigen nach UNESCO-Angaben bei 94 Prozent und damit deutlich über der Indiens, Pakistans und Bangladeschs und fast gleichauf mit der Thailands, Indonesiens und der Philippinen. Gemeinden ohne Grundschulen gibt es heute nicht mehr in Vietnam und fast alle verfügen auch über die nächste weiterführende Schulart, die untere Sekundarschule.

Trotz aller Freude über die messbaren Fortschritte lässt der Unterricht selbst aber häufig noch zu wünschen übrig. „Sie lernen wie Papageien“, sagt eine vietnamesische Mutter, die anonym bleiben möchte. „Der Unterricht besteht hauptsächlich aus vorsagen und nachplappern.“ Frontalunterricht sei an der Tagesordnung, berichten auch andere Eltern. Wie in diesem Englischunterricht an einer Grundschule mitten in Hanoi: Eine flotte junge Lehrerin steht vor der Tafel und ruft ihren Viertklässlern einen englischen Spruch über Bananen entgegen. „Peel banana, cut banana, eat banana…“ Im Chor schallt es zurück: „Peel banana, cut banana,…“ Und wieder von vorne. So geht es weiter, hin und her.

Verkehrt ist daran zunächst nichts, zumal die Kinder schon in der Grundschule mit Englisch beginnen, doch dabei bleiben sollte es nicht. Kreatives, eigenständiges und „vernetztes“ Lernen sieht anders aus. Nach westlichem Empfinden ohnehin, aber inzwischen diskutieren auch vietnamesische Eltern über Unterrichtsinhalte – und finden sie häufig nicht mehr angemessen. „Sie lernen nicht, zu denken und zu analysieren“, sagt die kritische Mutter, die ihre zwei Töchter auch deswegen auf eine ausländische Privatschule schickt. Obwohl das Schulgeld eines von zwei Gehältern verschlingt, haben die Mittelschichteltern bewusst diesen Weg gewählt: „Die Bildung unserer Kinder ist es wert“, sagt die Mutter zur Begründung,  die so oder ähnlich fast überall in Vietnam lauten könnte.

Vietnams Regierung hat die Defizite bereits erkannt

Tatsächlich gehörte Auswendiglernen und Aufsagen in den staatlichen Schulen bis vor kurzem zu den wichtigsten Lernmethoden. Wer nicht mithalten konnte, der vertiefte sein Wissen auf ähnliche Weise in kollektiven Nachhilfestunden am Wochenende, oftmals in beengten Klassenräumen, manchmal sogar ohne Fenster. Inzwischen gelten diese „traditionellen Lehrmethoden“, wie man den Drill in Vietnam heute freundlich umschreibt, als unmodern. „Bildung sollte sich niemals auf das reine Auswendiglernen beschränken“, heißt es beim „Institute for Research on Educational Development“, einer Denkfabrik in Ho-Chi-Minh-Stadt. Die Wissenschaftler dort empfehlen eine aktivere Mitarbeit der Kinder und generell mehr Raum, damit die Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten und ihre Kreativität entfalten können. 

Auch die Regierung sieht Verbesserungsbedarf und will umsteuern. In einer bemerkenswert kritischen Analyse des vietnamesischen Bildungssystems heißt es sogar, die Qualität der Bildung sei niedriger  als vorgeschrieben und in anderen Ländern üblich. Und weiter: „Die Wechselbeziehung zwischen quantitativer Entwicklung und qualitativen Verbesserungen ist nicht richtig angegangen worden.“ Man hat, mit anderen Worten, sehr danach gestrebt, möglichst viele Kinder in die Schulen zu bringen, aber nicht genug darauf geachtet, womit sie ihre Zeit dort verbringen. Die Lerninhalte seien zu theoretisch und die Art des Unterrichtens überholt, steht in dem Regierungsbericht, weil oftmals nicht nach Talent und Lerntypen der Schüler unterschieden werde.

Autorin

Friederike Bauer

arbeitet als freie Journalistin und Autorin. Sie lebt in Frankfurt am Main und schreibt hauptsächlich über Außen- und Entwicklungspolitik.

Ein weiteres Problem besteht in der Ausstattung und den Klassengrößen. Sie sind Anfang des Jahres auf 35 Kinder in Grundschulen und 45 Schüler in Gymnasien begrenzt worden. Doch die Realität sieht vielerorts immer noch anders aus. In der Zeitung „Viet Nam Times“ beklagt Rektor Ha Thanh Hai, in seiner Grundschule liege der Schnitt bei 45 Schülern. Auch in der Grundschule im Zentrum Hanois pressen sich jeweils 40 bis 45 Kinder in zum Teil winzige Zimmer. Hier bleibt – ganz wörtlich genommen – wenig Raum für Bewegung, Kreativität und Interaktion. Besonders beengt sitzen die Kinder im Computerraum, wo sich jeweils zwei von ihnen dicht gedrängt hinter einen Bildschirm quetschen und kaum drei Zentimeter nach rechts oder links rücken können. Und trotzdem ist es beachtlich, dass Computerwissen vermittelt wird und die Kinder schon im Grundschulalter mit moderner Technik in Berührung kommen. Nicht nur hier, sondern in immer mehr Schulen Vietnams findet nach Angaben der UNESCO inzwischen Bildschirmunterricht statt.

Eine neue „Bildungsentwicklungsstrategie“ für das ganze Land, gültig bis 2020, soll nun helfen, die Schwächen zu überwinden. Dazu gehören veränderte Lehrpläne, bessere Lehrerbildung, mehr Platz in Klassenräumen, gezielte Förderung von Minderheiten und vieles mehr – alles, um das Bildungsniveau weiter zu heben. Und das lässt sich Vietnam einiges kosten: Mindestens ein Fünftel seines nationalen Budgets will das Land in den nächsten Jahren jeweils dafür aufwenden. Ein Anteil, der im internationalen Vergleich herausragt, deutlich höher ist als in Deutschland und noch einmal belegt: Bildung hat höchste Priorität. Ehrgeizige Schüler wie der angehende Ingenieur Van Thanh Nguyen entsprechen somit nicht nur den Wünschen der eigenen Familie, sondern auch genau dem Ideal der Offiziellen in Hanoi. 

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erschienen in Ausgabe 5 / 2013: Wer spricht Recht?
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