Der Verlust von Tier- und Pflanzenarten ist schon immer mit dem Vordringen des Menschen verbunden: Als Jäger hat er Großwildarten ausgerottet, bevor er zu Ackerbau und Viehzucht überging; Eingriffe in Urwälder raubten weiteren Tier- und Pflanzenarten den Lebensraum. Mit der Kolonialzeit, der Industrialisierung und dem Anwachsen der Weltbevölkerung hat sich das Artensterben jedoch dramatisch beschleunigt. Heute gehen in jedem Jahrzehnt mehr Arten als je zuvor unwiederbringlich verloren.
Natur und Artengemeinschaften haben sich schon immer geändert. Das liegt im Wesen biologischer Vorgänge begründet und läuft auch unabhängig vom Menschen ab. Was sich aber seit dessen Eingriffen auf der Erde verändert hat, ist die Geschwindigkeit des Artenschwunds; die Umweltveränderung hat eine neue Qualität erhalten. Irland zum Beispiel gilt als natürlich grüne und die Seele beruhigende Insel zwischen Europa und dem Atlantik. Sie wird für Urlaub und Entspannung aufgesucht. Dass sie nur noch zehn Prozent Waldfläche aufweist, die fast ganz forstlich gelenkt ist, dass sie keine wirklich eindrücklichen Landtiere und kaum ursprüngliche Pflanzengemeinschaften besitzt, fällt vielen nicht auf. Tatsächlich aber kamen die irischen Mönche, die im Frühmittelalter aus Irland zur Missionstätigkeit nach Kontinentaleuropa ausschwärmten, nicht von einem wiesengrünen Eiland, sondern von einer waldreichen Insel.
Autor
Bruno Streit
ist Professor für Ökologie und Evolution an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main sowie Sprecher von BioFrankfurt, dem Netzwerk für BiodiversitätSpätestens im 17. Jahrhundert war dieser Wald gerodet und als Bau- und Brennmaterial verbraucht worden. Die inzwischen stark gewachsene Bevölkerung verlangte nach zunehmend mehr bebaubarer Landfläche. Zum Hoffnungsträger für die Behebung der prekären Ernährungslage wurde die bald darauf aus Südamerika eingeführte Kartoffel. Die kalorienreiche exotische Knolle wurde großflächig angebaut und ermöglichte eine ausreichende Ernährung und weiteres Bevölkerungswachstum. Aber im 18. Jahrhundert begannen eingeschleppte Krankheitserreger der eingeführten Nutzpflanze zuzusetzen und führten schließlich zu einer katastrophalen Hungersnot mit zahlreichen Todesopfern und Auswanderungswellen.
Auf der südlichen Erdhalbkugel war Madagaskar bis vor etwa zweitausend Jahren von Wald bedeckt, überwiegend tropischem Regenwald. Es wurde dann von Menschen besiedelt, die mit Jagd und aktiver Landschaftsveränderung bewirkten, dass schließlich eine stark verarmte sekundäre Savanne mit nährstoffarmen Gräsern das Gesicht der Insel dominierte. Viele große Säugetiere, wie Flusspferde und große Halbaffen (Lemuren), sind dort in den vergangenen tausend bis zweitausend Jahren verschwunden. Auch die weltgrößten Laufvögel, die mit den Straußen verwandten Elefantenvögel, sind ausgestorben. Holzeinschläge und das Bevölkerungswachstum im 20. Jahrhundert setzen der Vielfalt weiter zu. Übrig geblieben ist eine immer noch artenreiche Klein- und Mittelfauna, aber die ausgedehnten Naturwälder sind auf Madagaskar wie fast überall auf der Erde verschwunden. Die instabile politische Lage bildet einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor: Es ist offen, wie die verbliebenen 4 Prozent des Regenwaldes, die schon vom Menschen manipuliert sind, über das 21. Jahrhundert hinaus erhalten werden können.
Ein ähnliches biologisches Schicksal hat Neuseeland hinter sich: Alle Großvögel – etwa die bis über zwei Meter großen Moas und der Haast-Adler mit einer Flügelspannweite bis drei Meter – und große Waldflächen sind in den vergangenen zweitausend Jahren, seit der Besiedlung durch südostasiatische Kolonisten, verschwunden. Mit der zusätzlichen Besiedlung durch Europäer ab 1840 sind zahlreiche neue Tier- und Pflanzenarten aus Westeuropa eingeführt worden. Heute finden wir europäische Singvögel in den Parks, und in den „Natur“-Landschaften und Gewässern schwimmen europäische Saiblinge, Forellen und Schleien. Viele einheimische Tiere und Pflanzen sind verschwunden oder es gibt nur noch Restvorkommen.
Süd- und Mittelamerika hat wohl bald nach dem Eintreffen der ersten menschlichen Besiedler vor mindestens 13.000 Jahren viele jagdbare Großtierarten eingebüßt. Das war den späteren indigenen Völkern weitgehend unbekannt – ebenso wie uns heute. Immerhin berichten noch indianische Legenden vom Mapinguari, einem Fabelwesen, das auf das Riesenfaultier verweisen könnte. Die letzten dieser rindergroßen, sich langsam in den Landschaften Chiles bewegenden altertümlichen Säugetiere dürften dort vor gut 10.000 Jahren verschwunden sein. Fast saurierhaft wirkende träge Groß-Gürteltiere (Glyptodonten), die über eine Tonne schwer werden konnten, grasten auf südamerikanischen Savannen und waren wohl eine leicht jagdbare Beute. Auch auf Pferde und auf Mastodonten – Verwandte der Elefanten – trafen die frühen Siedler in Mittel- und Südamerika. Wie lange die Huf- und Rüsseltiere nach Eintreffen der Früh-Indios überlebt haben, ist unklar, aber wohl maximal einige Jahrtausende. Alle späteren Völker haben sich den verbliebenen Kleintieren und Pflanzen zugewandt sowie Ackerbau entwickelt – wie in anderen Teilen der Erde, wo die vorangegangene Megafauna erschöpft war.
Arten und Artenverlust
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Der Verweis auf die Artenverluste und Umweltveränderungen, die Menschen in früherer Zeit verursacht oder mit verursacht haben, soll nicht von den Zerstörungen heute ablenken. Nun verschwinden in jedem Jahrzehnt insgesamt noch wesentlich mehr Arten als früher. Die genetische Vielfalt der verbliebenen Populationen ist reduziert, die Meere sind leergefischt und die Nahrungsketten weltweit sind auf die Milliarden von Haus- und Nutztieren umorientiert, die die Wildtiere gleichsam beerbt haben.
Auch haben Menschen in den vergangenen 500 Jahren – seit Begründung der europäischen Kolonialreiche – nach und nach immer mehr Tiere, Pflanzen und krankmachende Keime über die ganze Welt verbreitet. Zum Beispiel die Pilzkrankheit Chytridiomykose, die heute weltweit in den Tropen vorkommt und inzwischen wohl 200 Froscharten vernichtet hat. Durch das vielerorts unkontrollierte Sammeln von Wildpflanzen zu Nahrungs-, Heil- oder Gewürzzwecken werden heute auch die entsprechenden Kräuter, Bäume und Sträucher in manchen Regionen bedrohlich selten. Ihr verbliebener Bestand kann den Bedarf der 6,8 Milliarden Menschen oft nicht mehr decken.
Im Meer sind praktisch alle Bestände größerer Walarten zurückgegangen. Im Mittelmeer sind die Bestände von Hammer- und Blauhai in den letzten 200 Jahren auf nur noch 1 Prozent eingebrochen. Dass Quallen in den Weltmeeren häufiger geworden sind, ist eine Folge von Überfischung. Rund die Hälfte aller Korallenriffe ist von der Meereserwärmung und von Sedimentfrachten aus dem strapazierten Festland gefährdet.
Bei Seen und Flüssen sieht es nicht besser aus: Der Euphrat führt noch etwa ein Fünftel der früheren Wassermenge; viele seiner Nebenflüsse sind ausgetrocknet, lokale Fischarten sind ausgestorben. Fast alle großen Ströme der Erde werden, um Energie und Bewässerung zu sichern, in Ketten von Stauseen umgewandelt; das lässt die ursprüngliche Fauna und Flora dramatisch einbrechen. Obendrein werden gezielt wirtschaftlich nutzbare Besatzfische ausgesetzt, die fast überall die regionale Fischfauna in hohem Maße bedrängen. Viele Arten sind am Rande des Aussterbens oder schon verloren. Anders als Panda oder Tiger haben sie jedoch keine Lobby, die Emotionen schürt, und entschwinden weitgehend unbemerkt.
Verheerende Einbrüche in der globalen Zahl der Arten gab es schon vor dem Menschen. Die Ursachen waren Klimaänderungen, große und lang andauernde Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge, der Untergang von Inseln oder das Erscheinen neuer Räuber und Konkurrenten unter den Mitgeschöpfen. Erdgeschichtlich betrachtet bestand aber eine Art Gleichschritt zwischen dem Verschwinden von Arten und ihrer Neuentstehung. Das ist heute anders: Die Aussterberate von Arten ist um ein Vielfaches, für manche Gruppen um ein hundert- bis über tausendfaches größer geworden als die Neuentstehungsrate. Letztlich ist dafür eine einzige biologische Art mit bislang ungebremstem Wachstumspotenzial verantwortlich: der Mensch.
Neben dem Nettoverlust von Arten erleben wir auch eine zunehmende Vermischung der verbleibenden lokalen Arten mit exotischen, ein Phänomen, das es so bislang noch nie gegeben hat. Die gewachsene Ordnung in der Verbreitung der Arten und der Beziehung zwischen ihnen ist dadurch überall weitgehend gestört. Regional beobachten manche dadurch paradoxerweise eine Zunahme der Artenvielfalt. So findet man auch inzwischen in allen großen Seehäfen und weiten Küstenbereichen Meerestiere, die bis vor kurzem dort nicht vorkamen.
Was bedeutet dies alles für die Natur? Über die ökologischen Langzeitauswirkungen sind wir im Unklaren. Kurzfristig und oberflächlich betrachtet ist die Wirkung überraschenderweise oft weniger dramatisch, als man spontan befürchten mag. Das ist einer der Gründe, warum uns die Veränderungen häufig weder auffallen noch aufregen. Ein „Umkippen“ und Kaputtgehen von Ökosystemen ist meist nicht oder nicht sofort zu beobachten. Die Natur findet im Nahrungsnetz „Ersatzarten“ für ausgestorbene Arten, verändert sich aber, da nun Wechselbeziehungen gestört sind oder ausfallen, im Allgemeinen in Richtung größerer Einheitlichkeit. Viele Blütenpflanzen benötigen zum Beispiel bestimmte Insekten als Bestäuber; verschwindet diese Insektenart, geht auch die Überlebensbasis der Pflanze verloren. Die Natur wird global gesehen eintöniger.
Nach einem Kahlschlag, häufig gefolgt von Weide oder Landwirtschaft, erneuert sich die Natur mit einer anderen Artengemeinschaft, so dass zum Beispiel aus einem ehemaligen Regenwald eine Steppensavanne werden kann. Viele Trockenzonen der Erde reagieren aber empfindlich auf das vielerorts niederschlagsarme Klima. Die Böden von Nordafrika und Vorderasien sind durch jahrtausendelange Entwaldungen und Beweidungen mit Ziegen, Dromedaren und Eseln ihrer Muttererde beraubt und können unter den jetzigen Umständen keine naturgemäße Vegetation mehr aufbauen. Versuche der Wiederaufforstung in Trockenregionen, etwa in der Sahelzone, bleiben in ihrer Wirkung umstritten und werden selbst in dem Falle, dass sie zu einer Art Forst führen, keinesfalls mehr die frühere natürliche Vielfalt an Lebewesen und die ursprüngliche Landschaft ausbilden können.
Unsere an Arten verarmte Landschaft wird diesen Weg auch in Zukunft weitergehen, jedenfalls so lange, wie es nennenswert Menschen auf der Erde gibt. Veränderte Ökosysteme werden die ehemals artenreiche Natur ersetzen; Kulturpflanzen und Nutztiere, lokal auch mehr oder weniger dominante eingeschleppte Wildarten, werden das Bild stark prägen. Der frühere Zustand wird rasch im kollektiven Vergessen versinken und kaum im bewussten Sinne vermisst werden. Was geht uns dann aber eigentlich verloren?
Die vielfältigen Arten der Tiere und Pflanzen hatten ehemals große Bedeutung für die Ernährung, die Medizin und als Rohstofflieferanten. Sie stellten Ornamente und Symbole, hatten Bedeutung in der Mythologie und Weltanschauung und waren Bestandteil der täglichen Sprache und Denkweise. In der Bibel kommen etwa 110 Pflanzen- und 130 Tiernamen vor, die wir heute nur noch teilweise bestimmten Arten zuordnen können, die aber die naturverbundene Ausdrucksweise und Geisteshaltung in der Zeit ihrer Entstehung aufzeigen. Allein der Löwe oder die Löwin wird im Alten Testament rund 90 Mal genannt. Der männliche Löwe stand für Gefahr oder Stärke, für Mut oder Raubgier, die Löwin für die umsorgende Mutter.
Im neuen Testament kommt schon kein Löwe mehr vor. Der wild lebende Löwe dürfte in der Römerzeit äußerst rar geworden und vermutlich weitgehend aus dem Alltagsbewusstsein der jüdischen und christlichen Bevölkerung verschwunden sein. Auch bei uns ist die tier- oder allgemein die naturbezogene Ausdrucksweise generell seltener geworden. Die Artenverarmung und unsere Entfremdung von der biologischen Vielfalt gehen schleichend, aber nachhaltig vor sich.
Das Artensterben geht auch mit großen wirtschaftlichen Verlusten einher. Intakte Ökosysteme sind Garanten für den Sauerstoff in unserer Luft und für die Wasserspeicherung und die Fruchtbarkeit der Böden, die uns Nahrungsmittel, Viehfutter oder auch Biodiesel zu produzieren ermöglichen. Auch unbekannte Naturstoffe, alternative Medikamente oder Vorbilder für neue technologische Entwicklungen liegen verborgen in Tieren, Pflanzen und Mikroben. Der wirtschaftliche „Wert“ der Natur und ihrer Vielfalt wird über solche Ökosystemleistungen berechnet.
Welchen monetären Wert stellen uns intakte Ökosysteme zur Verfügung? Dies zu berechnen ist weder trivial noch unproblematisch, weil wir ohne den Sauerstoff, das reine Wasser oder die Nahrung gar nicht überleben könnten – sie sind auch durch beliebig viel Geld nicht zu ersetzen. Aber man kann fragen, was es kosten würde, wenn zerstörte Landschaften regeneriert werden müssten. Auch hat man berechnet, wie viel Allgemeinkosten die Einschleppung exotischer Arten verursacht, speziell dann, wenn sie Gesundheitsschäden bei Mensch, Tier oder Nutzpflanze herbeiführen.
Solche Berechnungen sollen die Bedeutung der Artenvielfalt auch jenen Mitbürgern verständlich machen, denen Naturschönheit und -vielfalt wenig sagt, sondern die primär in Gewinn- und Verlustrechnungen denken. Auch die Klimadebatte ist erst zu einem öffentlichen Thema geworden, als die finanziellen Folgen propagiert wurden in der Form: „Was kostet es uns langfristig, wenn wir jetzt nichts gegen den Klimawandel unternehmen?“ Daher versuchen die Vertreter der UN-Biodiversitätskonvention (CBD), unter dem Begriff TEEB (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) über den ökonomischen Wert der biologischen Vielfalt aufzuklären.
Ist es zum Beispiel wirtschaftlich sinnvoll, Garnelenzuchten an Meeresküsten einzurichten, auch wenn dafür die Mangrovenwälder abgeholzt werden müssen? Angesichts der hohen Nachfrage nach Garnelen schein das naheliegend; bezieht man aber längerfristige Umweltkosten ein, kommt man unter Umständen statt zu einem Nettogewinn zu einem Nettoverlust. Denn in einer Gesamtbilanz muss auch der unsichtbare öffentliche Wert der Mangrove eingehen: Diese in Ufernähe wachsenden Meeresgehölze schützen vor Sturmfluten und Küstenerosion und erlauben ertragreiche traditionelle Fischerei. Ihr Schutz kann für das Gesamtökosystem und die lokale Wirtschaftskraft wertvoller sein als die Garnelenzucht. Diese kann meist auch nur wenige Jahre an einem Ort betrieben werden, weil die mit der Fütterung verbundene Belastung des Wassers und des Sediments keine Langzeitbewirtschaftung erlaubt.
Wie weit solche Berechnungen das Bewusstsein für die langfristige Bedeutung der biologischen Vielfalt und intakter Ökosysteme wirklich stärken, ist unklar. Entscheidend für die zukünftige Entwicklung der Natur wird sein, wie sich das globale Bevölkerungs- und Konsumwachstum und die lokalen sozialen und politischen Gegebenheiten entwickeln und ob sich weltweit ein Bewusstsein für den nachhaltigen und intelligenten Umgang mit der bedrängten und begrenzten Mutter Erde herausbildet.
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