Autor
Wolfgang Reinhard
ist Historiker und arbeitet am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und Fachartikel und wurde 2001 für sein Gesamtwerk mit dem deutschen Historikerpreis ausgezeichnet.Staaten sind große Organisationen und als solche zunächst weder gut noch böse. Sie können Gutes bewirken: Sicherheit und Sozialleistungen garantieren, Bildungseinrichtungen bereitstellen, Straßen und Bahnen bauen. Sie können aber auch Böses veranlassen: Kriege anzetteln, Gegner foltern, Minderheiten unterdrücken oder gar ausrotten. Sie können das, weil der moderne Staat die effektivste Form von Machtkonzentration ist, die Menschen bisher erfunden haben.
Menschen sind ungleich. Daraus entstehen notwendigerweise Machtbeziehungen zwischen ihnen. Das sind die elementarsten politische Beziehungen. Jeder von uns praktiziert in diesem Sinn im Alltag Politik mit seinen Mitmenschen. Solche Machtbeziehungen lassen sich regulieren und mehr oder weniger weitgehend organisieren.
Aus diesem Grund sind schon immer kleine und infolge menschlichen Machtwillens auch große Gemeinwesen entstanden, die wir aber nicht Staaten nennen sollten, denn sie sind weit vom modernen Staat entfernt. Es ist für das Verständnis hilfreicher, die Bezeichnung „Staat" für das Endprodukt der politischen Geschichte Europas zu reservieren, das im 19./20. Jahrhundert ausgereift war und in dieser Gestalt in die Welt exportiert wurde. Was menschlicher Machtwille weltweit sonst an größeren Gemeinwesen hervorgebracht hat, möchten wir im Unterschied zu Staaten lieber Reiche nennen.
Ein Hauptunterschied besteht in der Uneinheitlichkeit von Reichen: Eine Zentrale, ursprünglich ein Monarch, gebietet über Territorien mit verschiedenem Rechtsstatus, oft mit unterschiedlich enger Bindung an die Zentrale, und über Untertanen mit ungleichen Rechten. Dabei rechtfertigt der Monarch seine Stellung mit einer Autorität jenseits seiner Herrschaft; er ist „Sohn des Himmels" oder „von Gottes Gnaden". Noch 1918 pochte Kaiser Wilhelm II. auf sein Gottesgnadentum und bestand die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie aus einer „deutschen" und einer ungarischen Reichshälfte, die ihrerseits wieder in Gebiete mit unterschiedlichem Status gegliedert und von Untertanen mit ungleichen Rechten bewohnt waren. Neben der Monarchie war die Armee die einzige gemeinsame Institution, die aber unter der für ein solches Reich typischen Vielsprachigkeit litt.
Reiche gab es überall auf der Welt. Das großartigste war wohl das chinesische, dessen Geschichte häufig gegen die Feststellung ins Feld geführt wird, die Europäer hätten den Staat erfunden. Doch warum hätten dann Chinesen wie Japaner ihre Reiche im 19./20. Jahrhundert in moderne Staaten verwandeln sollen? Sie gaben damit den gerade unabhängig gewordenen Kolonien des Westens ein Beispiel. Denn gerade die koloniale Expansion des Westens hatte sie gelehrt, dass dessen moderner Staat ein besonders machtvolles Gemeinwesen darstellte. Aus diesem Grund glaubten sie keine andere Wahl zu haben, wenn sie politisch überleben oder gar selbst expandieren wollten. Bereits die Anfänge der Entwicklung zum Staat in Europa sind von politischer Konkurrenz bestimmt. Aus geographischen wie historischen Gründen bestand das frühmittelalterliche Europa aus zahlreichen miteinander rivalisierenden adeligen Herrschaften. Könige und Kaiser waren nur Erste unter Gleichen. Aber die europäische Adelsherrschaft war selbst locker strukturiert, Dörfer und Städte besaßen beträchtliche Autonomie. Selbstverwaltung war unvermeidlich, wo es noch keine Lokalverwaltung durch Beamte gab.
Nachträglich können wir feststellen, dass sich von hunderten möglichen Anwärtern auf Staatsbildung bis ins 19. Jahrhundert rund zwei Dutzend durchsetzten und moderne Staaten schufen. Das „Europa der tausend Könige und zehntausend Republiken" verwandelte sich in endlosen Kriegen allmählich ins Europa der modernen Staaten. Seinem Ursprung nach ist der moderne Staat ein Kriegsstaat. Machtbewusste Herren mussten die Ressourcen ihrer Länder mobilisieren, um Krieg und Militär zu finanzieren. Zur Ressourcenmobilisierung war ein Ausbau des Verwaltungsapparats erforderlich, der seinerseits Geld kostete. Diese Spirale aus Krieg und Ressourcenmobilisierung in ständiger Konkurrenz zueinander ist der entscheidende Mechanismus im Wachstum der werdenden Staatsgewalt. Soldat und Steuereinnehmer haben zusammen die Grundlagen des modernen Staates gelegt. Denn Ressourcenmobilisierung bedeutet Besteuerung, die in Europa aber nur mit Zustimmung der Besteuerten möglich war. Dazu wurden Vertreterversammlungen, die so genannten Stände geschaffen. Zwar gelang es den meisten Monarchen, die Steuerhoheit an sich zu ziehen, aber in England entwickelte sich aus der ständischen Steuerbewilligung der moderne Parlamentarismus.
Allerdings liefen Steuern nur langsam ein, während Kriegskosten sofort fällig waren. Das System konnte also nur mit Krediten funktionieren, das heißt mit Hilfe der städtischen Geldwirtschaft. Ein weiterer Beitrag der städtischen Kultur war die Ausbildung der neuen Elite der Juristen. Machtwillige Staatsgründer benötigten Eliten, die das Wachstum der Staatsgewalt zu ihrer Sache machten, weil sie davon profitierten. Mit ihnen wurden die neu geschaffenen Zentralbehörden, später auch die Lokalverwaltung besetzt. Anders als Adelige und Geistliche waren Juristen städtischer Herkunft und für Stellung und sozialen Aufstieg völlig von den Fürsten abhängig. Bis heute sind Juristen die politische Klasse des modernen Staates geblieben.
Außer in England war das Recht der Juristen das wiederentdeckte Römische Recht. Die einzigartige politische Kultur des werdenden modernen Staates beruhte nicht zuletzt auf politischen Traditionen aus der Antike: Politik im modernen Sinn, als Handeln im Interesse des Gemeinwesens, war bei den alten Griechen als Ordnung entstanden, die von den Bürgern selbst gemacht wurde. Ihr Vollzug oblag Amtsträgern, die im Auftrag ihrer Mitbürger tätig und diesen Rechenschaft schuldig waren. Die römische Republik war elitärer, hat aber diese Praxis weiter institutionalisiert und das Gemeinwohldenken weiterentwickelt.
Das Mittelalter war zunächst in die archaische, auf persönliche Beziehungen gegründete Adelsherrschaft zurückgefallen. Aber die Römische Kirche bewahrte die institutionelle Tradition der Antike und gab sie an die weltlichen Herrscher weiter, bis diesen mit dem Römischen Recht und zunehmender Kenntnis der antiken Philosophen wieder weltliche Theorien zur Verfügung standen. In der Kirche herrschte das Territorialprinzip der Pfarreien und Bistümer, und ihre Priester wurden als erste Beamte Europas bezeichnet. Zumindest theoretisch war ihre Stellung nämlich nicht erblich und wurde nach Qualifikation besetzt. Entsprechend ging die Kirche auch mit der Entwicklung des geschriebenen Rechts, von Justiz und Verwaltung voran. Allerdings beanspruchte die Papstkirche Unabhängigkeit von den weltlichen Herrschern und zeitweise sogar die Oberherrschaft über sie. Das heißt zur europäischen politischen Kultur gehört ein weltweit einzigartiger Dualismus von Religion und Politik, in der Sprache der Moderne: von Kirche und Staat.
Herrscher waren zwar Richter und Hüter, nicht aber Herren des Rechts, sondern blieben ihm unterworfen und wurden an ihm gemessen. Verhältnismäßig unabhängige Richterkollegien beanspruchten im 17. und 18. Jahrhundert sogar das Recht zu derartiger Prüfung. Daraus sollte sich anschließend die Verfassungsgerichtsbarkeit entwickeln. Bereits die Antike kannte zudem das Recht zum Aufstand gegen einen Tyrannen. Nach gemeinsamen Vorstellungen der überkommenen Volksrechte und des Römischen Rechts besaß jeder freie Europäer ein unanfechtbares Eigentum an seiner Person, seinen Rechten und seinem Besitz - daher die Steuererhebung nur mit seiner Zustimmung. Rechtsverletzungen durch die Obrigkeit berechtigten zum Widerstand, notfalls mit Gewalt.
Allerdings gelang es der wachsenden Staatsgewalt bis zum 19. Jahrhundert, diese Freiheitsräume zu schließen, indem sie bis dahin autonome Bereiche unterwarf und deren Vertreter zu Staatsdienern machte. Die Kirchen wurden vom Staat abhängig gemacht, häufig in Staatskirchen verwandelt und schließlich auf den Status von privilegierten Vereinen reduziert. Das Recht wurde Staatsmonopol: Der Staat wurde zur alleinigen Quelle des von ihm geschaffenen und durchgesetzten Rechts, die Juristen damit zu Staatsdienern. Die alten Grund- und Menschenrechte wurden zwar von der Amerikanischen und der Französischen Revolution 1776 beziehungsweise 1789 zusammengefasst und noch einmal in ihrer staatskritischen Funktion proklamiert. Durch ihre Integration in die neu geschaffenen Verfassungen wurden aber auch sie der Verfügung der Staatsgewalt als Inhaberin des Rechtsmonopols unterworfen.
Denn die Französische Revolution hat zwar die Monarchie beseitigt und den König geköpft, aber das Wachstum der Staatsgewalt keineswegs aufgehalten, sondern im Gegenteil sogar beschleunigt. Erstens wurden alle Zwischengewalten wie adelige Herrschaft oder Herrschaft des Hausvaters über Familie und Gesinde abgeschafft und alle Bürger unmittelbarer staatlicher Kontrolle unterworfen. Zweitens identifizierte sich die Staatsgewalt von jetzt an mit der Nation, was ihr den denkbar größten Ressourcenzuwachs einbrachte, bis hin zur Selbsthingabe jedes Einzelnen für das Vaterland. Drittens war sie von nun an säkular, ihre Rechtfertigung durch fremde Instanzen entfiel. Als Zweck ihrer selbst entschied sie hinfort nach Belieben über ihre eigenen Befugnisse.
Die Verwirklichung dieser revolutionären Errungenschaften brauchte freilich Zeit. Außerdem wurde als Folge der Demokratisierung im 20. Jahrhundert die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr zur Aufgabe des Staates: die sozialstaatliche Komponente entstand. Der moderne Staat war in Grundzügen um 1800 fertig, erreichte aber seine volle Ausbildung in Europa erst in den 1970er Jahren.
Seine wesentlichen Eigenschaften sind erstens ein einheitliches Staatsgebiet und Staatsvolk sowie eine einheitliche Staatsgewalt. Das steht im Gegensatz zu älteren Reichen, in denen es Gebiete und Bewohner mit unterschiedlichem Status sowie autonome adelige oder kirchliche Herrschaft gab, die sich nicht vom Staat herleitete. Das Prinzip der Einheitlichkeit war geradezu das Leitmotiv der Moderne, während die Postmoderne wieder Pluralität kultiviert. Zweitens ist die Staatsgewalt souverän, das heißt sie anerkennt innerhalb wie außerhalb des Gemeinwesens nichts und niemand über sich. Konkret bedeutet dies das Monopol der rechtmäßigen Anwendung von physischer Gewalt im Inneren durch Justiz, Verwaltung und Polizei und dasselbe Monopol nach außen - das heißt das Recht, Krieg zu führen. Drittens ist der moderne Staat Rechtsstaat, er hält sich im Normalfall an sein eigenes Recht. Und er ist Verfassungsstaat, er bindet sein Recht und sein Handeln an ein Rechtsdokument höheren Ranges, das sein politisches System organisiert.
Er ist viertens Nationalstaat, das heißt er betrachtet sich als Vollstrecker des einheitlichen politischen Willens seiner Bürger, die sich als Nation mit ihm identifizieren. Er bekennt sich fünftens zu den Grund- und Menschenrechten sowie zur Volkssouveränität, die in der Regel über Wahlen ausgeübt wird. Selbst in Diktaturen muss heutzutage wenigstens eine demokratische Fassade aufrecht erhalten werden. Er ist sechstens säkular, er verzichtet auf jede religiöse Anbindung und Rechtfertigung. Hier gibt es im Bereich des Islam Ausnahmen, die aber keineswegs auf die übrigen Eigenschaften des modernen Staates verzichten.
Der moderne Staat ist siebtens Sozialstaat, das heißt er hat mit der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft die Daseinsvorsorge für seine Bürger übernommen. Und er war und ist schließlich Machtstaat, insofern erstens alle seine im Laufe der Geschichte erworbenen Merkmale zusammen auf eine ungeheuere, historisch einmalige Ballung von Macht hinauslaufen und zweitens seine politische Klasse sich in der Regel nicht mit dem Genuss der Früchte dieser Macht begnügt, sondern Machtpolitik zu deren weiterer Steigerung betreibt. Daraus ergibt sich die weltweite Verbreitung des modernen Staates. Machteliten außereuropäischer Länder und die neuen Eliten ehemaliger Kolonien konnten sich kein politisches System vorstellen, das besser zur Abschöpfung von Ressourcen und zur Machtentfaltung geeignet wäre. Dazu standen sie unter Anpassungsdruck: Man hatte keine Wahl, wenn man in der internationalen Politik ernst genommen werden wollte. Alternativen der politischen Selbstorganisation ohne Staat sind zwar aus Geschichte und Gegenwart durchaus bekannt, aber in der Staatenwelt, wie sie ist, einstweilen nur als Ausnahmen in Nischen überlebensfähig.
Dennoch erweist sich der moderne Staat je länger desto weniger als Erfolgsmodell - nicht nur in ehemaligen Kolonien Afrikas, sondern auch in Europa. Das hat im wesentlichen zwei Gründe. Der erste ist die Überdehnung des Staatswachstums. Es hat auf verschiedenen Gebieten eine Grenze erreicht, deren Überschreiten zu einem Umschlag in Desintegration führen muss. Dass der Sozialstaat die Grenze seiner Finanzierbarkeit erreicht hat, ist allgemein bekannt. Aber auch das Prinzip demokratischer und nationaler Selbstbestimmung, konsequent verwirklicht, führt zur Auflösung bestehender Staaten. Die ständige massenhafte Produktion neuen Rechts, um angeblichem neuem Regelungsbedarf gerecht zu werden oder neue Interessen zu bedienen, hebt automatisch die Verlässlichkeit des Rechtsstaats auf. Die Rechtseinheit und das Gewaltmonopol lassen sich längst nicht mehr erzwingen und sind in allmählicher Auflösung begriffen. Deutsche Gerichte wenden islamisches oder jüdisches Recht an; private Firmen übernehmen Polizei- und Militäraufgaben, neuerdings sogar Gefängnisse. Hier dürften vor allem alte und hoch entwickelte Staaten betroffen sein, doch bei geringeren Ressourcen kann die Obergrenze auch anderswo rasch erreicht werden.
Der zweite Grund ist, dass mit dem modernen europäischen Staat die komplizierte politische Kultur, die zu seinem Funktionieren nötig ist, nicht mit exportiert wurde. Die griechisch-römische Idee, dass das Allgemeine den Vorrang vor dem Besonderen hat, die kreative Spannung zwischen Religion und Politik, zwischen Recht und Politik, zwischen Herrschaft und Autonomie haben ein Jahrtausend gebraucht, um Europas politisches Leben zu prägen und die wachsende Staatsgewalt zu bändigen. Nach fünfzig oder auch hundert Jahren Kolonialherrschaft können sie anderswo kaum Wurzeln gefasst haben, so dass es bei der Übernahme der bloß formalen Staatsorganisation bleiben musste. Oft genug haben die Kolonialherren aber nicht einmal diese eingeübt, sondern ihre Kolonien auf vormoderne Weise mittels persönlicher Beziehungen regiert. Vorhandene vormoderne Verwaltungstraditionen wurden dem eingepasst. Wo moderne Bürokratien geschaffen wurden wie in Indien, gelangten die Einheimischen meist nicht in die oberen Dienstgrade.
Ein Ergebnis sind fragile Staaten mit häufig völlig korrupten Staatsklassen. Korruption ist freilich ein relativer Begriff, der von der Bezugsgröße, in unserem Fall einem funktionierenden modernen Staat abhängt. Was aber, wenn dieser an einer anderen politischen Kultur scheitert? Dann herrscht stattdessen die weltgeschichtlich normale konzentrische Ordnung, in der man sich in erster Linie dem Nächsten verpflichtet fühlt, was vielleicht sogar gut christlich ist. Machthaber haben demgemäß für Verwandte, Freunde und Gefolgsleute zu sorgen. Außenstehende kommen nur als Bittsteller ins Spiel. Die Unterscheidung von Gemeinwohl und Partikularinteresse ist unbekannt; die öffentliche Ordnung ist eine Ordnung der Privilegien.
Es gibt Indizien dafür, dass diese vormoderne, im größeren Teil der Geschichte vorherrschende Ordnung nicht bloß in Afrika anzutreffen ist, sondern auch in Europa wiederkehrt. Wahrscheinlich wird der moderne Staat in seiner klassischen Gestalt auf lange Sicht also auch dort eine vorübergehende Erscheinung bleiben.
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