Jean Ziegler
Wir lassen sie verhungern.
Die Massenvernichtung in der Dritten Welt
C. Bertelsmann-Verlag, München 2012, 320 Seiten, 19,99 Euro
Mit seinem neuen Buch vermag der Schweizer Soziologieprofessor Jean Ziegler zwar die Empörung über den weltweiten Hunger zu entfachen – eine differenzierte Betrachtung der Ursachen und vernünftige Lösungsvorschläge bleibt er aber schuldig.
Jenseits der Empörung über den Hunger der einen und den Überfluss der anderen wäre von einem Professor der Soziologie und früheren UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung auch eine Analyse zu erwarten, die sich ohne allzu schlichte Schuldzuweisungen um eine differenziertere Auseinandersetzung mit den Ursachen von Hunger und Unterernährung bemüht. Doch hier werden die Leser ziemlich enttäuscht. Denn das altlinke Weltbild von Ziegler lässt keine Grautöne zu: „Der Kampf gegen den Hunger wird ausschließlich von der makroökonomischen Situation, das heißt, dem Zustand der Weltwirtschaft, bestimmt“, schreibt er.
Noch immer sieht Ziegler einen ungebremsten globalen Neoliberalismus am Werk, in dem transnationale Konzerne („Tigerhaie“) das Geschehen bestimmen, flankiert von der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation (den „apokalyptischen Reitern des Hungers“). Dass gerade die Weltbank spätestens seit 2002 die Bedeutung staatlicher Institutionen für regulierte Märkte betont, dass der von Ziegler zitierte „Washington Consensus“ (1990) gerade von der Weltbank kritisiert und korrigiert wurde, wird folgerichtig unterschlagen.
Die Darstellung der Fakten ist in diesem Zusammenhang höchst selektiv. Einige Beispiele: Die Zahl der Hungernden steigt nicht, die UN-Ernährungsorganisation FAO spricht sogar von einem deutlichen Rückgang. Das Hungerland Indien hat zwar 2003 8,9 Millionen Tonnen Getreide exportiert; Ziegler vergisst aber zu erwähnen, dass das nur 3,8 Prozent der Ernte waren und dass Indien seitdem die Getreideexporte deutlich zurückgefahren und den Anbau ausgeweitet hat. Auch die Vorhersagen über die Hunger-Opfer der Finanzkrise haben sich nicht bestätigt. Kamerun schließlich hat die Geflügelimporte aus der Europäischen Union seit 2005 gestoppt, was dem Professor offenbar entgangen ist.
Auch bei den Bioenergien hätte man sich statt der schlichten Tank-oder-Teller-Alternative etwas mehr kritische Reflexion gewünscht, die die Größenordnung des Problems (1,1 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche werden für den Anbau von Energiepflanzen genutzt) ebenso reflektiert wie die implizite Annahme, Getreideüberschüsse in den USA oder eine Reduzierung der weltweiten Nachfrage nach Biosprit könnten das Hungerproblem lösen. Auch die Behauptung, „praktisch alle Experten“ würden der Spekulation die „entscheidende Rolle“ für den Preisauftrieb zuweisen, ist unzutreffend; über das Ausmaß, mit dem die Nahrungsmittelspekulation die Preise volatil macht, wird sehr wohl gestritten.
Man vermisst in diesem Buch vor allem eine Argumentation, die Widersprüche und Gegenstimmen reflektiert und verarbeitet und so zu einer begründeten Position kommt. Stattdessen bleibt der Autor bei einem allzu einfachen und damit falschen Schwarz-Weiß-Denken (neoliberaler globaler Kapitalismus vs. politischer Widerstand dagegen), das die Frage außer Acht lässt, wer in den gescheiterten Staaten die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung des Hungers tatsächlich durchsetzen soll. Ohne gutes Regierungshandeln wird deren Reichweite begrenzt bleiben. Man kann den Hunger nicht von außen gegen gesellschaftliche Widerstände besiegen.
Unterkomplexe Analysen haben unterkomplexe Lösungsvorschläge zur Folge. Mit 80 Milliarden US-Dollar pro Jahr könnten, so Ziegler, innerhalb von 15 Jahren die weltweite Armut – und der Hunger – abgeschafft werden. Ob Geld tatsächlich ausreicht, um die globalen Probleme zu lösen?
Georg Krämer
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