Drama im Live-Format

Einhundertundvier, Deutschland 2023, Regie: Jonathan Schörnig, 93 Minuten, Kinostart: 23. 5. 2024.

Die Dokumentation des Leipziger Jungregisseurs Jonathan Schörnig begleitet in Echtzeit das Team des deutschen Rettungsschiffs „Eleonore“, wie es vor der libyschen Küste 104 afrikanische Migranten von einem lecken Schlauchboot birgt. Sechs Kameras halten die Aktion in bis zu sechs Bildkacheln fest, so dass man sie aus mehreren Perspektiven quasi live verfolgt. 

Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 kamen im Mittelmeer fast 2000 Migranten ums Leben; dies ist die tödlichste Fluchtroute der Welt. Bilder von überfüllen Booten, ertrunkenen Migranten und geretteten Schiffbrüchigen sind aus Nachrichten, Reportagen und Kinofilmen bekannt. 

Der Regisseur Jonathan Schörnig, der 1991 in Leipzig geboren wurde und an der Bauhaus-Universität in Weimar Medienkunst studiert, geht einen anderen Weg, um die Dramatik der Flucht und die Mühsal der Seenotrettung herauszustellen. 

2019 hat er das Team des Rettungsschiffs „Eleonore“ der Dresdner Hilfsorganisation Mission Lifeline bei einem Einsatz vor Libyen begleitet. So ist er hautnah dabei, als das Beiboot „Lifeline 3“ auf dem Meer ein Schlauchboot mit 104 afrikanischen Migranten aufspürt, das beginnt, Luft zu verlieren. Die Seenotretter geben rote Rettungswesten aus, bergen erst sechs, dann acht, dann zehn Männer und bringen sie mit dem Beiboot zum Schiff. Doch die Zeit drängt, das Schlauchboot droht zu sinken. Dann taucht ein Schiff der libyschen Küstenwache auf, unter den Migranten macht sich Angst breit. Schließlich muss das Schlauchboot in einem riskanten Manöver an die Längsseite des Schiffs bugsiert werden, damit die letzten 40 Männer direkt zur „Eleonore“ hochklettern können. 

Sechs Kameras schneiden den gesamten Einsatz mit. Teilweise sind sie auf dem Beiboot und dem Schiff moniert, erfassen aber auch die Perspektiven von Kapitän Claus-Peter Reisch und anderer Mitglieder der Besatzung. Die Dokumentation zeigt bis zu sechs „Kacheln“ mit Kamerabildern gleichzeitig in wechselnden Kombinationen, zudem läuft ein Timecode mit. Das Split Screen-Format erzeugt ein Seherlebnis, das an künstlerische Videoinstallationen erinnert. Die Regie verzichtet auf Off-Kommentare und Musik, wir erfahren kaum etwas über die Seenotretter oder über die Geretteten. Im Zentrum steht allein die Rettungsaktion mit allen Details. 

Expertimentelle Gestaltung

Erst nach Abschluss der Bergung gibt es den ersten Filmschnitt: Im Vollbild sehen wir das Schiff aus der Vogelperspektive. An Bord singen die Afrikaner freudestrahlend. In den letzten zehn Minuten des Films erfahren wir über Einblendungen, dass die „Eleonore“ Malta ansteuert, aber weder dort noch in Italien anlegen darf. Fünf Tage wartet das Team auf eine politische Lösung. Als sich die Lage an Bord nach einem Gewittersturm zuspitzt und die Lebensmittel zur Neige gehen, darf das Schiff den italienischen Hafen Pozallo anlaufen, wo die Afrikaner aussteigen. 

Die experimentelle Gestaltung ist gewagt, sie mutet den Zuschauenden auch etliche sich wiederholende Sequenzen zu. Immer wieder pendelt das Beiboot zwischen dem fahruntüchtigen Migrantenboot und der „Eleonore“, immer wieder ruft Clara Richter, die einzige Frau in der Crew, vom Beiboot aus den Migranten zu: „Setzt Euch“. Nicht ohne Grund: Mehrmals droht unter den erschöpften Insassen Panik auszubrechen, immer wieder stehen einige auf, drängen sich nach vorne, so dass ihr Boot Schlagseite bekommen könnte. Die Gefahr einer Massenpanik ist mit Händen zu greifen. Die Gesichter der freiwilligen Helfer wirken angespannt und nervös, immer wieder mahnen sie die Migranten zur Ruhe. 

Weil die Zuschauenden quasi live dabei sind, entsteht eine starke authentische Atmosphäre mit hoher Dynamik. Sie werden gleichsam in das dramatische Geschehen hineingezogen, das jederzeit in eine Katastrophe münden kann. Durch die detaillierte Beobachtung wird zugleich anschaulich, wie lange es dauert, 104 Menschen von einem sinkenden Gummiboot zu holen, ohne sie oder die Retter zu gefährden. So groß die Erleichterung über die geglückte Aktion ist, so groß ist die Trauer darüber, dass das Team zwei andere Migrantenboote nicht finden konnte, die am gleichen Tag offenbar ebenfalls in Seenot waren. 

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