Eine Fülle von Lebenswegen und Ereignissen

Kristin Shi-Kupfer: Digit@l China. Überwachungsdiktatur und technologische Avantgarde. Edition Mercator, C.H.Beck Paperback, München 2023, 190 Seiten, 16 Euro

Die Sinologin und Politikwissenschaftlerin Kristin Shi-Kupfer betont in ihrem Buch, dass die digitale Entwicklung in China nicht nur vom Staat, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren (mit-)gestaltet wird.  

Kristin Shi-Kupfer will ein differenziertes Bild vom chinesischen Aufstieg zur digitalen Supermacht zeichnen, indem sie ausgewählte Menschen als Macherinnen und Macher der digitalen Dynamik in den Mittelpunkt rückt. In sieben Kapiteln stellt sie die Biografien ihrer Protagonisten vor. Die Fülle von Geschichten, Lebenswegen und Ereignissen, die sie präsentiert, ist allerdings für Lesende ohne einschlägiges Vorwissen zunächst einmal verwirrend und schwer einzuordnen. Was auch an der Spannbreite der Biografien liegt: Sie reichen von verschiedenen Chefs der Online-Aufsichtsbehörden über die Gründer großer IT-Unternehmen, IT-Entwickler, Stars von Livestreaming-Kanälen, Influencer, Bekämpfer von Cyberkriminalität und Hacker bis zu Online-Aktivisten. 

Diese Porträts zeigen zwar: Ja, es gab und gibt in China Personen, die in Eigeninitiative und aus Eigeninteresse die Digitalisierung vorantreiben. Doch die im Klappentext des Buches gestellte Frage „Wie abhängig sind Chinas Akteure auf dem Weg in die digitale Zukunft von Staat und Partei?“ bleibt eher unbeantwortet. Die Akteure der Digitalisierung lavieren – so der Eindruck – irgendwo zwischen Anpassung an vorhandene Machtstrukturen, Mitmachen, Ausnutzen von Spielräumen oder auch Widerstand. 

Eine Geschichte von Aufstieg, Fehlverhalten und Fall

Das ist auch in anderen politischen Systemen der Fall. Chinaspezifisch könnte vielleicht sein, dass „Fehlverhalten“ eher als anderswo staatlich sanktioniert wird. So etwa bei Bloggern und Bürgerjournalisten, die während der Corona-Pandemie den harten Lockdown in Wuhan in Kurzvideos dokumentierten und deswegen für einige Zeit und teilweise bis heute verhaftet wurden. Aber auch bei jemandem wie Lu Wei, dem ersten Chef von Chinas Cyber Administration (CAC), der zentralen Schaltstelle für Chinas Digitalpolitik. 

Seine Geschichte ist eine von Aufstieg und Fall; 2019 verurteilte ein Volksgericht ihn zu 14 Jahren Haft, nachdem der Mann aus kleinen Verhältnissen eine steile Karriere hingelegt hatte: Er schaffte es von der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua zum Posten des Vize-Bürgermeisters der Beijinger Stadtregierung und wurde schließlich Direktor der CAC. 2014 und 2015 reiste er viel durch die Welt, das US-Magazin Times kürte ihn zu einer der 100 einflussreichsten Personen des Jahres. „Neid und Missgunst innerhalb des Parteiapparats dürften vorprogrammiert gewesen sein“, vermutet die Autorin. Hinzu kamen berufliche Fehler und ein sehr ausschweifender Lebensstil. Und Lu habe immer wieder gegen Staatschef Xi Jinping opponiert, schreibt Shi-Kupfer. Was sie nicht erwähnt: Der Hauptvorwurf gegen ihn war der der Korruption, und er gestand, umgerechnet vier Millionen Euro Bestechungsgeld angenommen zu haben, wie etwa der Spiegel 2018 berichtete. 

Ab und an werden auch gute Seiten von Chinas Digitalpolitik genannt. So müssen Unternehmen seit März 2022 ihre Algorithmen dem Staat gegenüber offenlegen, und Nutzer können Algorithmen abschalten. China habe damit erstmals vor der EU und den USA einen digitalen Bereich reguliert, heißt es im Buch. Und was die Möglichkeit anbelangt, das Netz für Protest und Demokratisierung zu nutzen, schreibt die Autorin, dass das Internet in China umkämpft bleibe. Es sei in jedem Fall nicht ausschließlich ein „Instrument des digitalen Leninismus in den Händen des chinesischen Parteistaats“. Fazit: Das vorherrschende Schwarz-Weiß-Bild über China gewinnt neue Schattierungen, aber klar oder scharf wird es nicht. 

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