In seinem Buch zeichnet Hugo Slim informativ und aussagekräftig die Entwicklung des humanitären Systems bis heute nach und ruft alle Mitwirkenden zu Reparaturen und Reformen auf.
Zunächst einmal fällt der merkwürdige Titel ins Auge: Solferino 21. Das ist eine Anspielung auf Henri Dunants Buch über die blutige Schlacht von Solferino 1859 zwischen den Königreichen Österreich und Sardinien. Dunants Buch und sein humanitärer Aktivismus haben damals den modernen Ansatz der humanitären Hilfe (mit)begründet. Finanziert vom – von Dunant gegründeten – Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und den nationalen Rotkreuzgesellschaften Deutschlands, Norwegens und des Vereinigten Königreichs, legt Hugo Slim nun eine umfassende Einführung in die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des humanitären Sektors im 21. Jahrhundert vor – zutiefst persönlich, ohne falsche Ehrfurcht und wunderschön geschrieben. Ich habe sehr viel gelernt.
Das Buch ist in drei große Abschnitte unterteilt: Kriegsführung, Zivilisten (ein Begriff, der erst nach dem Ersten Weltkrieg aufkam) und das humanitäre System.
Der erste Abschnitt ist eine brillante Zusammenfassung der Art der Kriegsführung zu Beginn des 21. Jahrhunderts und ihrer vom Autor vermuteten zukünftigen Entwicklung. Die Ansichten des Autors und Spezialisten in Humanitärem Völkerrecht zur „Kriegsführung der nächsten Generation“ sind dabei beängstigend. Er prognostiziert eine Rückkehr zum „großen Krieg“ zwischen Großmächten, sieht eine Verflechtung der Kriegsführung mit anderen Krisen wie dem Klimawandel voraus und befasst sich eingehend mit den ethischen und praktischen Herausforderungen, die eine Kriegsführung mit KI-gesteuerten Maschinen mit sich bringt: „Was ist, wenn eine weitgehend autonome Maschine plötzlich eine moralisch zweifelhafte Entscheidung treffen muss? Vielleicht wird sie von feindlichem Feuer getroffen, verliert die Kontrolle und muss sich entscheiden, ob sie in eine Schule oder einen belebten Supermarkt kracht.“
Feminisierte Zivilbevölkerung
Der zweite Abschnitt über die Zivilisten erscheint seltsamerweise als der schwächste. Es bietet einen guten statistischen Überblick, aber die binäre Welt, die Slim von Zivilisten und Hilfsorganisationen malt, sagt wenig aus über Politik, öffentliche Autorität, die Rolle von religiösen Organisationen oder Diasporas und auch nicht über Gewalt, die von der Zivilbevölkerung ausgeht. Bemerkenswert sind seine Anmerkungen über Männer als „vergessene Zivilisten“. Humanitäre Helfer haben die Zivilbevölkerung seiner Meinung nach übermäßig feminisiert, indem sie immer wieder „Frauen und Kinder“ betonten und Männer kaum erwähnten.
Der letzte Abschnitt über die humanitären Helfer ist ein brillanter Leitfaden für alle, die neu auf diesem Gebiet sind. Slim ist ein kritischer Befürworter des Systems und zeigt anhand von Zahlen: Selbst verglichen mit aktuellen Konflikten wie dem in Syrien kamen in der vor-humanitären Vergangenheit mehr Menschen ums Leben.
Er hat jedoch große Bedenken hinsichtlich verschiedener Aspekte der Entwicklung der humanitären Hilfe. Dazu gehört der White-Saviour-Komplex, also das Phänomen, dass weiße Menschen sich als „Retter“ von Menschen des globalen Südens aufspielen, aber auch die Tendenz, über das Ziel hinauszuschießen und nicht nur Leben retten, sondern auch für so etwas wie westliche Wohlfahrtsstaaten und Menschenrechte eintreten zu wollen.
Sich davon befreien, alles beherrschen zu wollen
Stattdessen müsse die humanitäre Hilfe drei Ziele verfolgen: globale Abdeckung, Bereitstellung durch nationale Einrichtungen vor Ort und einfache Hilfe – er ist ein großer Fan von Geldtransfers und kleinen Zuschüssen. Sein abschließender Aufruf zum Handeln ist bedeutend: Die heutigen humanitären Helferinnen und Helfer sollten seiner Meinung nach beschließen, dass die globale humanitäre Hilfe kein utopisches Projekt der Perfektion ist, die jeden Teil des Menschen und der Gesellschaft um ihn herum reparieren, anpassen und reformieren soll.
Befreit davon, alles zu beherrschen, könnten sie sich dann auf eine große Sache konzentrieren: Macht zu teilen und besser mit lokalen und nationalen Institutionen zusammenzuarbeiten, um Hunderten von Millionen von Menschen zu helfen, sich selbst das Leben zu erhalten und ihre eigene Gesellschaft zu verändern. Das Buch ist wirklich aussagekräftig, ich empfehle es wärmstens.
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