Kinderblick auf Nationalismus und Willkür

Nachbarn. Schweiz/Kurdistan 2021, Regie: Mano Khalil,124 Minuten, Kinostart: 13. Oktober 2022

Das autobiografische Familiendrama des kurdischstämmigen Schweizer Regisseurs Mano Khalil erzählt, wie das ereignisreiche erste Schuljahr das Leben eines sechsjährigen Kurdenjungen in Nordsyrien für immer verändert.

In einem nordsyrischen Dorf an der Grenze zur Türkei beginnt der sechsjährige Sero sein erstes Schuljahr. Mit seinen Kameraden spielt er dem analphabetischen Schulwart gern mal einen Streich und träumt davon, dass seine kurdische Familie einen Fernseher bekommt, damit er endlich die heiß geliebten Zeichentrickfilme sehen kann. Sein großes Vorbild ist sein Onkel Aram, der ihn überall hin mitnimmt. Zusammen ärgern die beiden die türkischen Grenzsoldaten, indem sie drei Ballons in den kurdischen Farben rot, grün und gelb aufsteigen lassen, die von den Soldaten prompt beschossen werden.

Doch dann brechen für Sero harte Zeiten an: Ein neuer Lehrer reist an, um aus den Kindern des kurdischen Dorfes stramme panarabische Genossen zu machen, die den syrischen Langzeitdiktator Hafis al-Assad verehren. Obwohl Sero und andere Kinder kein Arabisch sprechen oder verstehen, verbietet der Lehrer die kurdische Sprache und lehrt allein in Arabisch. Als Mitglied der regierenden Baath-Partei predigt er immerzu Hass auf die Juden und studiert mit den Schülerinnen und Schülern ein anti-israelisches Theaterstück ein.

Seros Onkel schließt sich den kurdischen Rebellen an

Bei Sero führt das zu großer Verwirrung, geht er doch bei einer liebenswerten jüdischen Familie im Nachbarhaus ein und aus. Hannah, deren einzige Tochter, hat ein Auge auf Onkel Aram geworfen. Doch dann wird dieser vom Geheimdienst abgeholt und Tage später gefoltert und halbtot zurückgebracht. Als Aram auch noch zur syrischen Armee einberufen wird, schließt er sich den kurdischen Rebellen an. Für Hannah ist es das entscheidende Signal, Syrien endlich zu verlassen, bevor es zu spät ist.

Sero kommentiert die Geschichte seines ersten Schuljahres zu Beginn und am Ende aus dem Off. Eingebettet ist sie in eine Rahmenhandlung, die 40 Jahre später in einem irakischen Flüchtlingslager angesiedelt ist, in dem Sero und seine Familie überraschend Besuch aus der Schweiz erhalten. Damit schlägt der Film zugleich eine Brücke in die Gegenwart mit den schmerzhaften Folgen eines blutigen Bürgerkrieges.

Ein warmherziger Film mit starken Metaphern

Der in Schweiz lebende Regisseur Mano Khalil ist 1964 in einem kurdischen Dorf nahe der Stadt Kamishli in Syrien geboren, hat in den 1980er Jahren in Damaskus Jura und Geschichte studiert und 1994 das Studium der Filmregie in der Tschechoslowakei abgeschlossen. 2012 hat er in Bern seine Produktionsfirma Frame Film gegründet, die seinen jüngsten Film „Nachbarn“ hergestellt hat. Khalil hat dazu auch das autobiografisch geprägte Drehbuch geschrieben.

Der versierte Regisseur findet immer wieder starke Metaphern, die ein Gegengewicht zur Tristesse und den Widrigkeiten von Seros Alltags bilden. Etwa wenn Sero und zwei Dorfjungen gegen einen Strommast urinieren, der schon seit fünf Jahren im Dorf steht, das noch immer keinen Strom hat. Oder wenn der Knabe in der Schule träumt, dass seine Mutter, die eher zufällig von einem türkischen Grenzsoldaten erschossen wurde, noch lebt und mit ihm Hunderte Luftballons aufsteigen lässt. Mit seinen naiven Fragen setzt der Junge aber auch immer wieder heitere Akzente in einem Umfeld, das von fanatischem Nationalismus, wachsendem Antisemitismus, behördlicher Willkür und staatlicher Repression geprägt ist. Und von einem frappierenden Maß an Korruption, das geradezu surreale Züge annimmt, als Seros Vater Salim in einer Behörde neue Pässe beantragen will.

Fazit: Ein sehenswerter, warmherziger Film voller orientalischer Erzählfreude, der die Lebensbedingungen in einem „rückständigen“ syrischen Dorf der 1980er Jahre anschaulich schildert und in souveräner Manier für Völkerverständigung, religiöse Toleranz und Humanität eintritt.

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