Ein Jahr nach Abschluss des „Versöhnungsabkommens“ zwischen der namibischen und der deutschen Regierung zieht dieser Sammelband eine erste Bilanz. Denn es beinhaltet zwar die politische Verantwortung Deutschlands für den kolonialen Völkermord, aber keine rechtlichen Details, etwa zu Reparationen.
Die regierungspolitische Auseinandersetzung mit dem Genozid im heutigen Namibia, dem damaligen Deutsch-Südwestafrika, hat eine lange Geschichte. Über Jahrzehnte wurde der Massenmord, den Befehlshaber ab 1904 zu verantworten hatten, von deutschen Regierungen ignoriert. Das änderte sich langsam ab 2004, als die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Rahmen einer Gedenkfeier in Namibia um moralisch-ethische Entschuldigung bat. In der Folge wurden Entwicklungsprojekte – beispielsweise in Wohngebieten der Ovaherero – mit deutschen Steuermitteln gefördert, jedoch gab es keine juristische Aufarbeitung und keine Bereitschaft zu einem entschädigungsrelevanten Schuldeingeständnis. Erst 2015 stufte der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert den Völkermord in der früheren deutschen Kolonie als solchen ein.
Der von dem Politologen Henning Melber und der Kulturwissenschaftlerin Kristin Platt herausgegebene Sammelband bringt Hintergrundmaterial zur gemeinsamen Erklärung der deutschen und namibischen Regierungen Ende Mai 2021 und Reaktionen darauf. Er bietet neben ausführlichen Einleitungstexten, die Zusammenhänge unter Bezugnahme auf die historische Genozid- und Politikforschung herstellen, zwei umfangreiche Kapitel zu kolonialen Hypotheken und namibischen Wirklichkeiten. Darin geht es einerseits um die hiesige Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialherrschaft und andererseits um divergierende Erinnerungen und -deutungen des Genozids und weiterer kolonialer Konflikte in Namibia.
Zeitzeuginnen und Nachfahren wird eine Stimme gegeben
Dementsprechend finden sich Einschätzungen deutscher Politiker, Kulturvermittler, Künstler und Literaten sowie Beiträge namibischer Staatsbürger. Nachfahren von nach Namibia ausgewanderten deutschen Adeligen, Unternehmern oder Missionaren reflektieren über ihr familiäres Erbe und die kolonialen Verflechtungen ihrer (Ur)Großeltern. Schließlich kommen namibische Politiker zu Wort, die das Abkommen von 2021 z.B. als juristisch unzureichend ablehnen. Einige monieren, die Interessenvertretungen der Ovaherero und Nama seien daran nicht systematisch beteiligt worden, kleine Opfergruppen wie Damara und San würden ignoriert.
Zu Zeitzeuginnen und deren Nachfahren, denen eine Stimme gegeben wird, zählt eine frühere Hausangestellte. Etliche Mitglieder ihrer Familie wurden Opfer des Völkermords. Sie selbst überlebte in einem Versteck, wurde auf eine Farm veschleppt und dort schon als Kind von herrischen Deutschen gedemütigt. Solche Erinnerungen illustrieren, vor welchem Hintergrund der Genozid stattfand und dass er Teil umfassender Gewaltmuster in der Siedlerkolonie war. Dazu ist noch viel in Namibia und Deutschland aufzuarbeiten, wozu der lesenswerte Sammelband auch Einsteigern zahlreiche Denkanstöße bietet.
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