Dass Islamkritik von innen seit dem Arabischen Frühling lauter wird, ist hierzulande kaum bekannt. In seinem Buch gibt Ralph Ghadban Einblicke in spannende Debatten im arabischen Raum.
Um nichts weniger als eine neue Konzeption des Islam geht es den Islamkritikern im arabischen Raum. Der im Libanon geborene, seit 1972 in Berlin lebende Islamwissenschaftler und Politologe Ralph Ghadban hat neue Youtube-Videos ausgewertet, in denen Islamgelehrte aus der arabischen Welt die Fundamente ihres Glaubens infrage stellen. Dass sie frei zugänglich sind, ist an sich schon ein Novum. Noch vor kurzem riskierte jeder, der öffentlich den Islam hinterfragte, Repressionen des religiösen und politischen Establishments bis hin zu Morddrohungen.
Doch spätestens seit dem Arabischen Frühling fallen kritische Fragen an den Islam in muslimischen Gesellschaften auf fruchtbaren Boden, berichtet der Autor. Die Auseinandersetzung mit den bisher tonangebenden Traditionalisten finde mittlerweile sogar in Talkshows statt. Eine neue Konfrontation zwischen Traditionalisten und Humanisten habe in den arabischen Ländern die gängige Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen abgelöst, schreibt Ghadban.
Unheilvolle Verquickung von Religion und Politik
Infrage gestellt wird vor allem die unheilvolle Verquickung von Religion und Politik, die den Islam bis heute prägt. Bis ins siebte Jahrhundert gehen die traditionellen Islamkritiker zurück. Viele vermeintliche Glaubensfundamente stimmten mit der historischen Realität nicht überein und seien erst im Nachhinein konstruiert worden. So sei der Islam auf der arabischen Halbinsel keineswegs auf eine an viele Götter glaubende, rückständige Gesellschaft gestoßen. Aus vorislamischen und frühchristlichen Quellen gehe eindeutig hervor, dass die arabische Halbinsel zur Zeit Mohammeds von einem christlichen König beherrscht wurde, der über ein überwiegend christliches Volk herrschte. Auch sei nicht sicher, dass Mekka der Ursprungsort des Islams sei. Bis ins neunte Jahrhundert, also noch zweihundert Jahre nach Mohammeds Wirken, seien Moscheen nach Jerusalem und nicht nach Mekka ausgerichtet worden.
Mit ihrer Sicht auf die Sunna, also der Spruchsammlung, die dem Propheten Mohammed zugeordnet wird, stellen heutige Islamkritiker die gesamte bisherige islamische Lehre infrage. Neben dem Koran ist die Sunna die zweite Hauptquelle der Rechtsfindung im Islam und damit heilig. Unter dem Aspekt der Wissenschaft spricht einiges dafür, dass viele Sprüche tatsächlich nicht von Mohammed selbst stammen. Vielmehr sollen sie in der Frühzeit des Islam dem Propheten zugeschrieben worden sein, um die Macht der Herrschenden zu sichern. Damit war die Verquickung von Religion und Politik im Keim angelegt.
Streit unter Muslimen: Ist die Sunna unantastbar?
In den Augen der allermeisten Muslime ist die Sunna auch heute noch unantastbar. Die Forderung, sie historisch zu kritisieren, ist mehr als eine Palastrevolution. Der Kern des islamischen Glaubens wird damit zur Disposition gestellt. Denn die Frage stellt sich, was kommt dann? Ein Islam der Toleranz und Friedfertigkeit, bei dem die Vernunft mitreden darf, hoffen die Islamkritiker.
Wer „Allahs mutige Kritiker“ liest, wird feststellen, dass das, was sich gerade in der islamischen Welt abspielt, historische Dimensionen hat. Ghadban ist hoch anzurechnen, dass er eine deutschsprachige Leserschaft an diesen Entwicklungen teilhaben lässt. Dem Buch ist eine große Leserschaft zu wünschen.
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