In Nastasja Penzars Roman spürt eine junge Deutsche ihren Familienwurzeln in Guatemala nach. Die Geschichte ihrer Suche gerät zum Porträt eines traumatisierten Landes.
„Die Geburt ist nicht der Anfang“. Mit diesem Satz, der auch für das Thema des Buches steht, beginnt der Debütroman der jungen Berliner Autorin Nastasja Penzar. Yona, ein junges Mädchen mit guatemaltekischen Wurzeln, wächst als Halbwaise in Deutschland auf: Sie wird von ihrem aus Guatemala geflohenen Vater großgezogen. Wie und warum ihre Mutter gestorben ist, ist das große Geheimnis der Familie. Als ihr Vater im Sterben liegt, drückt er ihr einen kleinen Papierfetzen in die Hand, auf dem der Name Doña A. steht, außerdem eine Telefonnummer und eine Adresse. Mit diesem Zettel macht sich Yona auf den Weg in das zentralamerikanische Land.
So weit, so melodramatisch. Als Yona in Guatemala ankommt, wird sie von einer Flut von Eindrücken eines Landes überwältigt, in dem Leben und Tod, Brutalität und Sanftheit, Traum und Wirklichkeit oft nur Augenblicke auseinanderliegen. Die Autorin erzählt etwa, wie Yona und ihre Mitreisenden im Bus von drei bewaffneten Männern überfallen werden und wie die Protagonistin in ein Verhältnis mit einem Pandillero schlittert, also einem Mitglied einer der brutalen Jugendgangs, der ihr den rauen Alltag des Landes zeigt. So nimmt er sie mit auf die riesige Müllhalde von Guatemala-Stadt, wo in einer eilig hochgezogenen Siedlung aus Plastikplanen und Wellblech mitten im Dreck der pure Überlebenskampf herrscht und die Querschläger der Pistolenschüsse selbst die Kinder treffen. Wenn Penzar die allgegenwärtige Gewalt schildert, dann geht es immer auch um das kollektive Trauma, das der von 1960 bis 1996 währende Bürgerkrieg in Guatemala hinterlassen hat, in dessen Verlauf rund 200.000 Menschen ums Leben kamen. Dass am Ende auch Yonas privates Trauma – der frühe und mysteriöse Tod der Mutter und das beharrliche lebenslange Schweigen des Vaters über die Ereignisse – mit eben dieser Geschichte des Landes zu tun hat, dürfte Guatemala-Kenner kaum überraschen.
Die Wunden der guatemaltekischen Gesellschaft offengelegt
Der Berlinerin Nastasja Penzar, die selbst in Guatemala gelebt hat, ist mit ihrem Werk ein lesenswertes Romandebüt gelungen, eben weil sie Yona auf ihrer Reise die Wunden der guatemaltekischen Gesellschaft mit feiner Beobachtungsgabe offenlegen lässt. So etwa, als sie den eingangs geschilderten Raubüberfall auf den Bus als eine Art absurdes Theaterstück erzählt, in dem alle Beteiligten einer beharrlich einstudierten Choreografie folgen.
Einiges, was die junge Protagonistin auf ihrer Reise erlebt, mag europäischen Leserinnen und Lesern übertrieben erscheinen, etwa eine Szene mit Mitgliedern des Deutschen Clubs, einem Verein deutschstämmiger Guatemaltekinnen und Guatemalteken und ausgewanderter Deutscher, die ziemlich aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Doch auch das ist Guatemala: Ein Land, beherrscht von ideologischen Gegensätzen, offenem Rassismus und einem Klassendünkel, der auf Außenstehende völlig antiquiert wirkt. Die Geburt ist eben nicht der Anfang. Vor allem nicht in Guatemala, wo es fast unmöglich scheint, aus den Normen der Gesellschaft auszubrechen. Yona lernt diese Welt langsam kennen – und begreift, dass sie längst ein Teil davon ist. Dem Leser geht es genauso.
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