Zauberhafte Naturpoesie

Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Mit Fotos von Sebastião Salgado. Faber & Faber, Leipzig 2021, 192 Seiten, 22 Euro

Der erste auf Deutsch erschienene Roman einer nenzischen Autorin führt in die nordrussische Tundra. Anna Nerkagi berichtet poetisch von Generationskonflikten und Liebesleid in einer kleinen Nomadengemeinde.

Aljoschka befindet sich in einem stetigen Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne, Konvention und Liebe, Festhalten und Loslassen. Der junge Mann lebt mit seiner Mutter in einer kleinen nenzischen Nomadengemeinschaft am Fuße des Polar-Urals in Russland. Traditionell lebt die zweiköpfige Familie, wie die meisten Nenzen, von der Rentierzucht. Sie ziehen mit den Tieren von Weideplatz zu Weideplatz. Die Familie lebt in einem Tschum, einem großen, kegelförmigen Zelt, das mit Rentierfellen verkleidet ist und in dessen Zentrum sich eine Feuerstelle befindet. Schnell lässt sich das abgebaute Zelt auf von Rentieren gezogene Schlitten verladen, um an anderer Stelle wieder aufgebaut zu werden.

Schon länger erscheint der Mutter der heimische Tschum kühl und leer – Aljoschkas Vater ist verstorben, seine Geschwister sind weggezogen. Der größte Wunsch der Mutter ist es, dass ihr Sohn heiratet und bald Enkel den Tschum wieder mit Leben erfüllen. Schließlich sei Aljoschka bereits 26 Jahre alt und hätte der Sitte nach längst heiraten sollen. Doch der junge Mann will sich den nenzischen Traditionen nicht beugen. Aljoschka wartet lieber auf die Frau, der er einst sein Herz geschenkt hat: die Tochter des alten Nachbarn, die dem traditionellen Leben den Rücken gekehrt hat. Sehnlichst wartet er auf ihre Heimkehr, um gemeinsam mit ihr ein selbstbestimmtes, glückliches Leben zu führen. 

Der Duft der frisch geschnittenen Rosmarinweidenäste

In „Weiße Rentierflechte“ trifft Aljoschkas tragische Geschichte auf anregende Naturbeschreibungen. Der Duft der frisch geschnittenen Rosmarinweidenäste, die Rufe der Bachstelze, die einzigartige Aura der Rentiere: Anna Nerkagi öffnet den Leserinnen und Lesern durch ihre Beschreibungen die Sinne. Verzaubernd poetisch beschreibt sie das Miteinander von Mensch und Natur und die Verantwortung, die damit einhergeht. Als Züchter sind die Nenzen von ihren Rentieren abhängig. Sie zu schützen, schreibt die Autorin, ist ihnen so wichtig wie das eigene Leben. 

Eines der Hauptnahrungsmittel der Rentiere – besonders im Winter – ist die titelgebende Rentierflechte. Weißlich wächst sie wie Moos am Boden und kann dabei große Teppiche bilden. Die Nenzen schreiben der Rentierflechte eine mythische Bedeutung zu und unterscheiden die heilige weiße und die Trauer ausdrückende schwarze Rentierflechte. Solche Überlieferungen, Bräuche und Begriffe des nenzischen Lebens werden im Anhang erläutert. 

Fotografien von Sebastião Salgado

Die das Buch eröffnenden Schwarzweißfotografien des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado unterstützen die Einzigartigkeit des Textes. Unzählige Rentiere in einer weißen, kaum zu fassenden Weite, dazwischen die vereinzelten Schlitten der Nenzen und ein Schutz bietender Tschum.

Nerkagis Erzählung fußt auf eigenen Erlebnissen. Die 1951 geborene Autorin lebte bis zu ihrem sechsten Lebensjahr in einer nenzischen Nomadengemeinschaft. Die sowjetische Behörde brachte sie dann in ein Internat, wo sie eine Schulausbildung erhielt. Sie absolvierte ein Studium, bevor sie mit 29 Jahren zur nomadischen Lebensweise zurückkehrte und eine Tundra-Schule für Nenzen-Kinder gründete.

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