In Mexiko lassen sowohl Regierungsvertreter als auch kriminelle Organisationen morden, um politische Gegner einzuschüchtern. Der Politikwissenschaftler und Humangeograf Timo Dorsch analysiert das mit marxistischen Kriterien als Auswuchs kapitalistischer Akkumulation.
Mehrere Drogenkartelle konkurrieren um die Kontrolle von Transportrouten und beherrschen ganze Gemeinden und halbe Bundesstaaten, indem sie den Staat verdrängen oder unterwandern, berichtet der Autor. Dabei gehe es längst nicht mehr nur um Kokain, Cannabis, Opiate und Designerdrogen, sondern um jede Art ertragreichen Wirtschaftens: vom Bergbau über den Export von Avocados bis zur Schutzgelderpressung. Die Drogenbosse säßen so fest im Sattel, dass sie sogar Interviews im Fernsehen gäben und ihren Machtanspruch durch spektakulär inszenierte Gewalt durchsetzten. Beispielsweise gegen Bauern, die ihr fruchtbares Land nicht abtreten, oder Ladenbesitzer, die kein Schutzgeld zahlen wollen oder können – oder auch gegen örtliche Vertreter der Staatsgewalt. Durch eine öffentlich zur Schau gestellte Leiche, so Dorsch, signalisieren die Mörder: „Hier regieren wir!“
Der Politikwissenschaftler, der sich nicht nur auf Sekundärquellen beruft, sondern auch vor Ort recherchiert hat, erklärt das Ausufern der Gewalt mit dem Zusammenbruch des traditionellen politischen Systems in Mexiko: Von 1929 bis 2000 beherrschte die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) sieben Jahrzehnte lang alle Lebensbereiche. In diesem System konnten soziale Wohltaten, Korruption und Gewalt in einem gewissen Gleichgewicht für das Funktionieren eines gut geölten Staatsapparats und der Gesellschaft sorgen. Dann kamen durch demokratische Wahlen zunächst in einzelnen Bundesstaaten und schließlich auf Bundesebene andere Parteien an die Macht. Im Jahr 2000 übernahm mit Vicente Fox die marktliberale Partei der Nationalen Aktion (PAN) die Präsidentschaft; ihm folgte 2006 bis 2012 sein Parteikollege Felipe Calderón. Ursache der zunehmenden Gewalt sei „ein per se undemokratisches und ökonomisch ungleiches System, in dem nun mehrere Machtgruppen um die Durchsetzung ihrer Vorteile und Interessen ringen“.
Calderón erklärte zu Beginn seiner Präsidentschaft dem organisierten Verbrechen den Krieg. Die Folge waren neue Rekorde in der Mordstatistik, weil das Verbrechen zurückschlug. An der Kultur der Straflosigkeit für politische Morde änderte sich auch wenig, als von Ende 2012 bis Ende 2018 wieder die PRI mit Enrique Peña Nieto den Präsidenten stellte. Der Autor behandelt auch die ersten Jahre der Präsidentschaft von Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, der seit 2018 regiert und als Hoffnungsträger einer demokratischen Linken gilt. Er kommt zwar besser weg als seine Vorgänger, weil er echte Sozialreformen angehe und die Sicherheitsorgane teils aufgelöst, teils reformiert habe, doch könne auch er sich großkapitalistischen Interessen nicht entziehen und zeige gegenüber Kritik wenig Toleranz.
Abschließend beschreibt Dorsch anhand des Bundesstaates Michoacán, wie das organisierte Verbrechen flächendeckend die Macht ergreifen und sich auch die legale Wirtschaft einverleiben konnte. Eine besondere Rolle spielten dabei die „Tempelritter“, eine aus dem Drogengeschäft kommende Mafia, die einen religiösen Auftrag vorschiebt. Ihre Herrschaft war indes so brutal, dass die örtliche Bevölkerung sie 2017 in einem blutigen Aufstand vertrieb. Keine erbauliche Lektüre, aber für alle, die das heutige Mexiko verstehen wollen, dringend empfohlen.
Neuen Kommentar hinzufügen