Lateinamerikanische Pendelbewegungen

Die Romanisten Patrick Eser und Jan-Henrik Witthaus dokumentieren in ihrem Sammelband einen Rechts­trend in vielen lateinamerikanischen Staaten und analysieren diesen aus politikwissenschaftlicher, kultureller, soziologischer und historischer Sicht. 

Patrick Eser, Jan-Henrik Witthaus (Hg.): Rechtswende in Lateinamerika. Politische Pendelbewegungen, sozioökonomische Umbrüche und kulturelle Imaginarien in Geschichte und Gegenwart. Mandelbaum-Verlag, Berlin, Wien 2020. 296 Seiten, 26 Euro
In den insgesamt zwölf Artikeln geht es um Wahlerfolge rechter Präsidentschaftskandidaten wie Jair Bolsonaro, Iván Duque oder Sebastián Piñera in Brasilien, Kolumbien bzw. Chile, aber auch um den steigenden Einfluss von Militär, evangelikalen Kirchen und juristischen Verfolgungskampagnen gegen progressive Politiker.  Die Beiträge zeigen aber auch, dass dieser Rechtstrend mit Widerständen einhergeht. So verweisen verschiedene Texte über Demonstrationen und Proteste in Chile, Brasilien und den peronistischen Wahlsieg in Argentinien vor einem Jahr auf eine sich zunehmend formierende Gegenbewegung.

Historiker und Literaturwissenschaftler des interdisziplinären Autorenteams befassen sich darüber hinaus mit antisemitischen und antipopulistischen, also elitären, klassistischen Vorbildern aus Kunst und Literatur, an die moderne rechtspopulistische Denker anknüpfen. Der Marburger Soziologe Dieter Boris untersucht politische Pendelbewegungen in Staaten wie Bolivien, Brasilien oder Ecuador. Dort geriet eine Linksregierung spätestens 2015 mit dem Preisverfall für Rohstoffe und dem Einbruch der Binnenmärkte unter Druck. Die gerade erst in den Mittelstand aufgestiegenen ärmeren Schichten suchten, wie Boris schreibt, angesichts ihrer prekären materiellen Situation ihr Heil in rechten Alternativen, so dass konservative Regierungen erneut die Macht übernehmen konnten. Gleichzeitig verloren die jeweiligen Linksregierungen durch Korruption und Vetternwirtschaft an Ansehen, und das Militär versprach im Gegenzug für eine erneute Beteiligung an der Macht Schutz vor Kriminalität und Gewalt. 

Daran anknüpfend identifiziert Hans-Jürgen Burchardt die Faktoren, die seiner Meinung nach eine Mitverantwortung der progressiven Regierungen für Lateinamerikas Rechtsruck begründen. Zum einen hätten die Linksregierungen eine materielle Umverteilung durch ein gerechtes Steuersystem sowie eine aktive Sozialpolitik schlicht und einfach versäumt. Zudem hätten auch progressive Regierungen wie die unter Evo Morales in Bolivien den eigenen Machterhalt immer in den Vordergrund gestellt und selbst soziale Bewegungen bekämpft, wenn die das extraktivistische Entwicklungsmodell infrage stellten. 

Der Politikwissenschaftler hofft allerdings, dass Krisenzeiten auch produktive Antworten hervorbringen. So verweist er auf die ursprünglich von den Linksregierungen in Ecuador oder Bolivien verfolgten neuen Ideen und Partizipationsformen, etwa durch die Einbindung von sozialen Bewegungen und Allianzen mit Gewerkschaften zur Steigerung der Inklusion und Stärkung der sozialen Kohäsion. 

Die Lektüre lohnt sich, denn die Beiträge sind informativ und erklären, was hinter den politischen Pendelbewegungen steckt. Sie liefern wertvolle Einschätzungen zur aktuellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation in Lateinamerika. Historische Entwicklungen werden dabei nicht ausgeklammert. An Lateinamerika interessierte Leser werden auf ihre Kosten kommen, auch wenn der ein oder andere wissenschaftliche Beitrag nicht ganz einfach zu lesen ist.

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