Der britische Historiker James Walvin zeigt in seiner Globalgeschichte des Zuckers, dass der mächtige Stoff nicht nur gesundheitlich, sondern auch gesellschaftlich großen Schaden verursacht.
186,3 Millionen Tonnen Zucker wurden laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2018/19 weltweit verbraucht, am meisten davon in Indien und China. Zum Vergleich: Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, nur fünf Prozent des täglichen Kalorienbedarfs mit Zucker zu decken, das wären ungefähr 25 Gramm. Den Aufstieg des Zuckers von der raren Delikatesse zum Allround-Lebensmittel für alle Bevölkerungsschichten zeichnet James Walvin in seinem Buch nach. Er zeigt dabei, dass dieser Aufstieg ohne den europäischen Kolonialismus und die Sklaverei nicht möglich gewesen wäre.
Von den 1530er Jahren an bauten Europäer in Südamerika Zuckerrohr an, zunächst in Brasilien und ab dem 17. Jahrhundert zunehmend in der Karibik. Das Geschäft florierte, und in den 1790er Jahren erreichten Jahr für Jahr rund 80.000 Sklaven die karibische Inselkette. Doch die Französische Revolution brachte den Sklavenhandel in den französischen Kolonien ins Wanken und verlagerte das Zentrum der Zuckerindustrie erneut: diesmal nach Nordamerika. Zudem etablierte sich langsam der Anbau von Zuckerrüben, die kein tropisches Klima brauchen.
Walvin geht in seiner Geschichte auch auf die schweren ökologischen und sozialen Folgen des Zuckerrohranbaus ein. Vor allem in der Karibik verschwand der heimische Regenwald unwiederbringlich durch Brandrodung. Die heutige, multiethnische Bevölkerung, Nachfahren von verschleppten afrikanischen Sklaven und europäischen Kolonisatoren, ist in erster Linie ein Resultat des Zuckerrohranbaus, betont der Experte für die Geschichte der Sklaverei.
Ende des 18. Jahrhunderts wurde Zucker in Europa dank großflächigen Anbaus tropischen Zuckerrohrs und industrieller Verarbeitung zum Grundnahrungsmittel und war überall erhältlich. Konsumiert wurde er meist in gesüßtem Tee und Kaffee und ist daher eng mit der Geschichte dieser anderen beliebten Kolonialwaren verknüpft. Dabei war laut Walvin schon Ende des 16. Jahrhunderts bekannt, dass das süße Weiß Zahnfäule auslöst. Heute gilt Zucker unter Gesundheitsbewussten geradezu als Teufelszeug, ist aber dennoch in einer Vielzahl industriell hergestellter Lebensmittel enthalten. Der Autor setzt sich auch mit den Auswirkungen des heutigen Zuckerkonsums, den Tricks der Lebensmittelhersteller und wirksamen Gegenmaßnahmen auseinander, allen voran der Zuckersteuer. Darüber hinaus findet er deutliche Worte für eine Industrie, die sich die Vorliebe für Süßes ohne Rücksicht auf Gesundheitsfolgen zunutze macht.
Der fundierten und anschaulichen Kulturgeschichte des süßen Goldes hätte es allerdings gutgetan, noch mehr auf die Gegenwart einzugehen. Auch heute ist Brasilien der weltweit größte Zuckerproduzent. Landraub, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, Abholzung und Pestizideinsatz haben dort und in anderen Zuckeranbauregionen verheerende Folgen für Mensch und Natur, ebenso die gängige Praxis, Zuckerrohrfelder vor der Ernte abzubrennen, um die Ernte zu erleichtern.
All dies findet in „Zucker“ leider keine Erwähnung. Eines verdeutlicht James Walvin allerdings sehr anschaulich: So unschuldig, wie es daherkommt, war das begehrte Süß noch nie.
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