Der senegalesische Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr plädiert für einen eigenen, afrikanischen Entwicklungsweg. Er kritisiert den westlichen Blick, der beim Namen „Afrika“ beginne, den die Römer dem Kontinent gegeben hätten, und beim Bildungs- und Verwaltungssystem ende, das die Strukturen der einstigen Kolonialmächte unhinterfragt weiterführe.
Von afrikanischen Staaten forderten westliche Beobachter stets eine Entwicklung im Sinne eines wirtschaftlichen Aufholens. Es sei aber falsch, für das Wohlergehen einer Nation in erster Linie das Bruttoinlandsprodukt heranzuziehen, betont Sarr. Den westlichen Turbokapitalismus kritisiert er als keinesfalls nacheiferungswürdig, zumal afrikanische Gesellschaften nicht auf Wachstumsmaximierung ausgelegt seien: „Der Homo africanus ist kein Homo oeconomicus.“ Die wichtigsten Ressourcen, die es dort zu fördern gelte, seien die afrikanische Kultur, die sich in erster Linie am Gemeinwohl orientiert, und ein Gesellschaftssystem, in dem der Imperativ der Großzügigkeit gelte. Die Folgen des Kolonialismus seien indes längst nicht überwunden. Ein Kontinent, der geschätzte 225 Millionen Menschen durch den Sklavenhandel verloren habe, brauche Jahrhunderte, um sich wieder zu erholen.
Felwine Sarr lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Gaston Berger Universität bei Saint-Louis im Senegal. Für Aufsehen in Europa sorgte er erstmals Ende 2018 mit seinem Bericht zur Rückgabe afrikanischer Raubkunst, den er im Auftrag Emmanuel Macrons mit verfasst hat. Mit seinem Essay „Afrotopia“ appelliert Sarr ausdrücklich an seine „Landsleute“, an „die Afrikaner“. Das irritiert, sind doch viele Europäer gerade dabei zu lernen, die 54 afrikanischen Länder nicht leichtfertig in einen Topf zu werfen.
Das Werk kommt manchmal arg blumig und wenig greifbar daher. So beschreibt Sarr Afrika als „enormes Feld zur Bearbeitung der Materie und der Dinge, bereit, sich einem grenzenlosen Universum zu öffnen.“ Konkrete Vorschläge oder Good-Practice-Beispiele für eine afrikanische Moderne, die keine schlechte Kopie Europas sein will, sucht der Leser vergeblich. Dabei gäbe es hier, wie das kürzlich in Dakar eröffnete Museum der schwarzen Zivilisationen zeigt, genug zu nennen, auch wenn die bekanntesten afrikanischen Wissenschaftler, Künstler und Sportler ihre Heimat verlassen haben. So hat der ruandische Architekt Christian Benimana in Kigali das African Design Center gegründet. Dort möchte er afrikanische Architekturstudenten ausbilden, die Afrikas Städteboom auf nachhaltige und gerechte Weise gestalten, dabei afrikanische Werte einbinden und so die Gemeinschaften zusammenbringen.
Der Essay eröffnet aber einen neuen Blickwinkel. Sarrs Argumentation läuft darauf hinaus, Afrika solle seinen eigenen Weg finden, nicht bloß dem Westen nacheifern. Sein Ansatz kann als Übertragung der in den 1930er-Jahren entworfenen Kulturtheorie der Négritude auf wirtschaftliche Zusammenhänge der Gegenwart verstanden werden. Das immer noch tief sitzende Bild vom schlechten Schüler Afrika wird so selbstbewusst dementiert.
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