One-Man-Show in Ankara

Das vom Wiener Institut für Internationalen Dialog und Kooperation (VIDC) herausgegebene Buch geht der Repressionswelle in der Türkei seit dem Putschversuch vom Juli 2016 nach, analysiert aber auch die Vorgeschichte.

Seit Verhängung des Ausnahmezustands nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 sind in der Türkei 145 Journalistinnen und Journalisten festgenommen worden, meist unter dem Vorwurf der Unterstützung des Terrorismus, betonten die Herausgeber bei der Präsentation ihres Buches in Wien. Sie sollen sich der Propaganda für die bewaffnete kurdische PKK oder die islamistische Gülen-Bewegung oder für beide schuldig gemacht haben und wurden teils zu hohen Haftstrafen verurteilt. Andere, wie Deniz Yücel, der Korrespondent der konservativen deutschen Tageszeitung „Die Welt“, wurden – nach dessen eigener Einschätzung – zu politischen Geiseln. Seine Freilassung nach zehnmonatiger Untersuchungshaft steht in auffälliger zeitlicher Nähe zur Genehmigung eines Rüstungsdeals durch Kanzlerin Angela Merkel.

Die Historikerin, Journalistin und Co-Autorin des Buches Ayşe Cavdar kann momentan nicht in die Türkei zurück, weil sie dort wahrscheinlich verhaftet würde. Sie betont, dass islamistische Bewegungen in Afghanistan, Algerien und anderen Ländern antihegemonial ausgerichtet sind, sich also gegen die jeweilige Staatsmacht richten. Das sei in der Türkei anders, hier sei der Islamismus „imperial“, also In­strument der autoritären Regierungspolitik. Eine Zeitlang hätten Erdogan und Gülen Hand in Hand gearbeitet, seien aber zu Konkurrenten geworden, als der Politiker den Prediger und seine gebildeten und global vernetzten Anhänger nicht mehr brauchte. Denn mit der Wahl des Islamisten Abdullah Gül zum Staatspräsidenten 2007 sei der gemeinsame Feind, der säkulare Kemalismus, besiegt worden. Gülen sei es gelungen, einige seiner Leute in die Armee einzuschleusen, schreibt Cavdar; sie hätten dann den Putschversuch unternommen.

Vor dem Zerwürfnis zwischen Erdogan und Gülen habe unter religiösen Familien Solidarität geherrscht. Jetzt hätten religiöse Muslime voreinander Angst, weil die AKP ständig weitere Feindbilder produziere, an erster Stelle Fetullah Gülen. Erdogan habe den Islamisten „das Gift des Nationalismus eingeimpft“, schreibt auch der Mitherausgeber des Bandes, Mithat Sancar, der Abgeordneter der kurdischen HDP und Vizepräsident des türkischen Parlaments ist. Die in der Türkei traditionell kämpferische Frauenbewegung hat den Ausnahmezustand nur geschwächt überlebt. Dieses Vakuum nutzen nun konservative Frauenorganisationen, die zum Teil sogar von Verwandten Erdogans gegründet wurden, wie Ayşe Dursun und Nehir Kovar in ihrem Beitrag berichten. In der LGBTI-Bewegung sieht die Erdogan-Regierung vor allem eine Bedrohung für Staat und Gesellschaft. Größere Freiheiten für sie gab es nur während der Annäherung an die EU. Demonstrationen sind verboten, weil nach Drohungen rechtsex­tremer Gruppen Gewalttaten befürchtet werden.

Schwieriger wird es auch für kritische Filmschaffende, die sich der Zensur der Bürokratie beugen müssen, wenn sie die Freigabe ihrer Filme für Kinos oder Festivals bekommen wollen. Staatlich finanziert werden bevorzugt kriegerische Heldenepen, die die Aggression der türkischen Armee gegen Kurden feiern, wie Firat Yücel, der Mitbegründer des Kinomagzins „Altyiazi Monthly“ schreibt.

Weitere Beiträge befassen sich mit der kurdischen Bewegung, Wirtschafts- und Außenpolitik, dem EU-Flüchtlingsdeal, Pressefreiheit und Nationalismus. Insgesamt bietet das Buch eine manchmal etwas sperrig zu lesende, aber lohnende Bestandsaufnahme der vergangenen zwei Jahre.

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