Der spanische Dokumentarfotograf Carlos Spottorno und sein Reporterkollege Guillermo Abril erzählen mit verfremdeten Fotos und kurzen Textpassagen die Geschichte der Massenmigration der vergangenen Jahre. Ihre Bilder zeichnen eine beklemmende Vision der Festung Europa.
Eignet sich eine Graphic Novel für die Schilderung von Flüchtlingsleid? „Ich glaube nicht, dass wir es mit einer Fotostrecke plus Prolog geschafft hätten, so detailliert und genau zu erzählen, wie es mit der Graphic Novel möglich wurde“, meinte Carlos Spottorno bei der Präsentation in Wien. Anders könne man ein breites Publikum nicht erreichen.
Es begann im Februar 2014 mit einem Auftrag für eine Fotoreportage der Wochenendbeilage der spanischen Tageszeitung „El País“. Die beiden Reporter sollten in der spanischen Exklave Melilla dokumentieren, wie afrikanische Flüchtlinge versuchen, den Grenzzaun zu überwinden, um auf EU-Territorium zu gelangen. Daraus wurde ein Projekt über die Ränder Europas, das seine Fortsetzung im Dreiländereck Bulgarien/Griechenland/Türkei fand. Im militärischen Sperrgebiet der griechischen Außengrenze fotografierten die beiden Grenzbefestigungen und aufgegriffene Flüchtlinge, die hinter Drahtzäunen wie Kriegsgefangene lebten. Die Menschen stammten aus Syrien, Afghanistan und verschiedenen afrikanischen Ländern, und einige von ihnen vertrauten den spanischen Journalisten ihre Wünsche und Sehnsüchte an. Andere zeigten ihre Narben von Folter oder Misshandlungen durch Polizei und Militär.
Die dritte Reise führte das Autorenteam auf die italienische Insel Lampedusa, den europäischen Vorposten vor der tunesischen Küste und einen der ersten Orte, der die Flüchtlingskrise in Europa sichtbar machte. Die Graphic Novel dokumentiert Rettungsaktionen auf hoher See im März 2014 genauso wie Alltagsgegenstände, die Ertrunkene zurückgelassen haben: einen Reisepass aus Nigeria, Zahnputzzeug, einen zerbeulten Teekessel, Wasserflaschen, eine Bibel etc. Die Operation Mare Nostrum habe 10.000 Menschen aus dem Meer geholt, heißt es an dieser Stelle lapidar. Wenig später sei Mare Nostrum „aufgrund fehlender Haushaltsmittel eingestellt“ worden. Weiteres Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik dokumentieren die Autoren auf der Westbalkanroute, die jäh am ungarischen Grenzzaun endet.
Weiter im Norden geht es kaum noch um Flüchtlinge: In der Ukraine und an der Grenze der baltischen Staaten zu Weißrussland und der Russischen Föderation spielen russische- und NATO-Truppen eine Neuauflage des Kalten Krieges durch. Auch rechtsextreme ukrainische Milizen sehen ihre Zeit gekommen.
Es sind beklemmende Bilder, die vor Augen führen, wie sehr Europa zur Festung ausgebaut wird. „Man spürt, dass die Welt zweigeteilt ist“, sagt Guillermo Abril, „entweder man ist drinnen oder man ist draußen“. Ob das Buch, das inzwischen auf Spanisch, Deutsch und Französisch erschienen ist, wirklich ein Massenpublikum ansprechen kann, sei dahingestellt. Es verkaufe sich nicht schlecht, meint Spottorno. Und es ist eine passende Lektüre für Menschen, die nicht wegschauen wollen.
Neuen Kommentar hinzufügen