Das Motiv der bedrohten Mehrheit

Der Journalist Francis Wade hat sein Porträt des Vielvölkerstaats Myanmar kurz vor dem enormen Gewaltausbruch gegen die muslimischen Rohingya auf den Markt gebracht. Er zeichnet darin die Vorgeschichte jahrzehntelanger Ausgrenzung und Diskriminierung einer kleinen Minderheit nach.

Als im Sommer 2017 binnen weniger Wochen in Myanmar knapp eine Million Angehörige der muslimischen Minderheit der Rohingya vor der Gewalt des Militärs ins benachbarte Bangladesch flohen, lag Francis Wades Buch bereits vor. Der Journalist, der seit Jahren über Myanmar und Südostasien schreibt, geht darin der Frage nach, wie sich in dem Land mit 52 Millionen Einwohnern die Annahme verfestigen konnte, dass die muslimische Minderheit (4 Prozent der Bevölkerung) die buddhistische Mehrheit (88 Prozent) in ihrer Identität dermaßen bedrohe, dass Gewalt und Vertreibung gerechtfertigt seien.

Wade zeigt, dass die Pogrome vom Sommer 2017 in dem Vielvölkerstaat mit seinen 135 verschiedenen Ethnien eine lange Vorgeschichte haben. Obwohl seit mehr als 1000 Jahren Muslime in Myanmar leben, betrachtet ein Großteil der Bevölkerung sie noch heute als illegale Einwanderer aus Bangladesch. Weil die Rohingya nicht als eigene Ethnie gelten, dürfen sie sich nicht am politischen Prozess beteiligen, haben keinen Zugang zu Bildung, kein Recht auf Grundbesitz, und ihr Eigentum ist nicht rechtlich geschützt – kurzum: sie sind Staatenlose.

Es sind Wades Gesprächspartner, die „Myanmar’s Enemy Within“ so wertvoll machen. So hat sich der Autor auf seinen zahlreichen Recherchereisen zwischen 2012 und 2016 zum Beispiel mit buddhistischen Nationalisten getroffen und sie nach den Hintergründen ihrer Überzeugung befragt. Er wollte von einfachen Bürgern wissen, warum sie 2012 bei einem der schrecklichsten Pogrome mit 200 Toten und 120.000 Vertriebenen mitgemacht haben. Ernüchternd ist, wie unreflektiert die Interviewpartner das Narrativ von einer bedrohten buddhistischen Identität übernehmen. Interessant ist auch das Gespräch, das Wade mit einem muslimischen Rohingya geführt hat, der sich einst als Buddhist ausgab, in der Armee diente und später ins Religionsministerium abgeordnet wurde, um Massenkonversionen zum Buddhismus zu organisieren. Die Zwickmühle, in der sich der gläubige Muslim befindet, wird nachvollziehbar beschrieben. Wade gelingt es, die individuellen Erfahrungen und Meinungen seiner Interviewpartner in den komplexen Kontext des Vielvölkerstaats einzuordnen und so ein Gesamtbild entstehen zu lassen.

Gut möglich, dass sich der Autor heute ärgert, dass er mit der Veröffentlichung seines Buches nicht noch ein halbes Jahr gewartet hat. Dann hätte er die jüngsten Vertreibungen einordnen können. Mit der Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) ist nämlich ein neuer Akteur aufgetaucht, über den noch sehr wenig bekannt ist, der den Konflikt aber mächtig beeinflusst. Laut der International Crisis Group wurde die Rebellengruppe 2016 von mindestens 20 Rohingya im saudi-arabischen Exil gegründet, um für einen eigenständigen muslimischen Staat zu kämpfen. Die ARSA hat sich zu den Überfällen auf 20 Polizeiposten im Sommer 2017 bekannt, die schließlich die Vertreibung von einer Million Menschen zur Folge hatten. Francis Wade sollte dringend einen Folgeband schreiben. Denn auch wenn das Buch derzeit nur auf Englisch vorliegt, so ist es aufgrund seines Reportagestils gut zu lesen.

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