Alte Grabenkämpfe, neues Leid

Der in Istanbul geborene und in Deutschland aufgewachsene Journalist Baha Güngör berichtet in seinem kenntnisreichen Buch vom Kampf zwischen Kemalisten und Islamisten. Der Konflikt beutelt die säkulare Republik Türkei seit ihrer Gründung 1923 durch Kemal Atatürk.

Den Aufstieg des Islamismus verfolgt Baha Güngör schon seit Jahrzehnten – und nicht erst seit der Regentschaft Recep Tayyip Erdogans. Er beschreibt, wie sich über lange Zeit die Armee als Hüterin der säkularen Verfassung präsentierte. Mehrmals putschten die Generale, wenn die islamischen Kräfte zu mächtig zu werden drohten. Nach dem ersten Putsch 1961 schufen die Militärs ein Verfassungsgericht, das über die Ausrichtung des Staates im Sinne Atatürks zu wachen hatte und im Extremfall auch islamistische Parteien verbieten konnte.

Eine Zäsur in der türkischen Geschichte ist der Staatsstreich von 1980, der zwar eine Zeit des politischen Chaos und der ausufernden Gewalt beendete, aber Tausende kritische Geister ins Gefängnis brachte und politische Gegner der Folter unterwarf. An 49 Menschen wurde die Todesstrafe vollstreckt, fast 300 starben hinter Gittern, 14 von ihnen an einem Hungerstreik.

Auch Erdogans heutiges Wüten gegen die Presse ist nicht einmalig. Bereits General Evren ließ während seiner Herrschaft in den 1980er Jahren 1000 Redaktionen schließen, mehr als 400 Journalisten vor Gericht stellen und zu insgesamt 3300 Jahren Haft verurteilen. Man kann sich also ausmalen, welches Blutbad die Wiedereinführung der Todesstrafe, die von Erdogan immer wieder vor tobenden Massen ins Spiel gebracht wird, unter Regimekritikern anrichten würde.

Ironischerweise war es ausgerechnet Turgut Özal, der das Land wieder Richtung Islam führen sollte – als Anführer einer der drei Parteien, die für die Wahlen 1983 vom Militär zugelassen wurden. Özal, der mit seiner konservativ-liberalen Mutterlandspartei ANAP fast ein Jahrzehnt regierte und dann zum Präsidenten gewählt wurde, war das erste Staatsoberhaupt der Türkischen Republik, das zu den heiligen Stätten in Mekka gepilgert war. Gerade seine Regierung, die doch eigentlich ein Bollwerk gegen den Islamismus sein sollte, stieß das Tor für die Islamisierung weit auf. Der Aufstieg des religiösen Lagers, erklärt Güngör, sei aber weniger in religiösem Eifer als vielmehr in der wachsenden Enttäuschung der Menschen über unendliche Korruptionsaffären, Skandale und Machtmissbrauch begründet gewesen. Deshalb sei auch im Jahr 1996 Necmettin Erbakan – der politische Ziehvater Erdogans – mit seiner islamistischen Wohlfahrtspartei zum Ministerpräsidenten gewählt worden.

Baha Güngörs Buch belegt auch, dass das deutsch-türkische Verhältnis nicht erst seit den Spottgedichten von Jan Böhmermann und der Einkerkerung deutsch-türkischer Journalisten getrübt ist, sondern es bereits unter Helmut Kohl Unstimmigkeiten gab. Schließlich geht der Autor detailliert auf die Gülen-Bewegung ein, die als Drahtzieherin des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 angeprangert wird. Güngör sieht in Gülens Positionen einen Ansatz für Dialog zwischen den Kulturen und für die Überzeugung, dass Religion und Moderne keine Gegensätze sein müssen – und zieht deshalb Fethullah Gülens Positionen dem demagogischen Eifer Erdogans vor.

Angesichts der dilettantischen Vorbereitung des Putsches bezweifelt er auch die These, dass die Gülen-Bewegung dahinter steckt. Vielmehr glaubt er, dass Erdogan es unterlassen habe, die Rebellion im Vorfeld zu unterdrücken, weil ihm das „Geschenk Gottes“ ein willkommener Vorwand war, unter dem Ausnahmezustand  ungestört ein zunehmend autoritäres Regime zu errichten. So fällt auch Güngörs Ausblick auf die Zukunft pessimistisch aus. Auf alle Fälle aber werden Leserinnen und Leser dieses Buches die weiteren Entwicklungen nach der Lektüre besser verstehen.
 

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